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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
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und das war nicht immer ein Segen. Vielleicht verwechseln Sie Mary’s Point mit einem anderen Point, mein lieber Junge. Wir haben, weiß Gott, mehr als genug hier in der Gegend.«
    »Ich bin sicher, es war Mary’s Point«, sagte Walker. »Eine Blockhütte mit einer Veranda mit Fliegengitter. Sah aus, als wäre sie dunkelrot oder so gestrichen. Stand neben einer Sandklippe wie der hier, aber da war ein Strand, ein Fahnenmast und ein riesiger, weißgestrichener Stein davor.«
    »Vor was?«
    »Na ja, da auf dem Strand. Davor halt.«
    »Kennen Sie Long Point?«, fragte sie. »Wenn Sie da hingehen, sehen Sie diesen großen Sumpf hinter einem Strand. Und wissen Sie, was da halbversunken in diesem Sumpf steckt?«
    »Nein.«
    »Häuser, mein Lieber. In den letzten Jahren ist das Wasser im Eriesee über einen halben Meter gestiegen. Winterstürme haben manche Häuser in den See gerissen oder, wie am Long Point, ein Stück weit in diesen Sumpf hinuntergeschoben. Es ist schrecklich. Weil’s hier so flach ist, haben wir mehr als fünf Meter Strand verloren.«
    Walker sah sie unverwandt an. »Und das heißt?«
    »Das heißt, dass der Name nicht stimmt, mein Lieber. Wenn Sie von den sechziger Jahren reden, hieß die Großmutter ihrer Mutter nicht Davidson, sondern Miller. Die Millers aus Toronto. Ich hab sie alle gekannt. Sie waren die einzigen mit einer Blockhütte. Die stand da, wo dieses Ungetüm hinter uns jetzt steht. Und«, sagte sie und schob zum ersten Mal ihre dunkle Brille ein wenig hinunter, so dass sie mit ihren getrübten haselnussbraunen Augen darüber hinweg sehen konnte, »wissen Sie, wo dieser riesige, weißgestrichene Felsbrocken jetzt ist?«
    Walker nickte. Er wusste es.
    Er war seiner Mutter nahe, nahe der Stelle, wo sich dieses kleine Mädchen vor einunddreißig Jahren an ihren Schwimmreifen geklammert hatte.
    »Ich stehe darauf«, sagte er.

[home]
    8
    B obby liebte seine Uniform: die schweren schwarzen Stiefel, die er jeden Abend putzte und die ihn fast vier Zentimeter größer machten, die dicken Wollsocken, die ihm genau bis an die knubbeligen Knie reichten, die grauen Hosen mit dem schwarzen Besatz und dem breiten schwarzen Gürtel, das Unterhemd in braun-grüner Tarnfarbe, genau wie bei den Marines, das enganliegende blaue Hemd mit dem gestärkten Kragen, die dunkelblaue Krawatte, das graue Sakko mit den Silberknöpfen auf den Epauletten und besonders das graue Barett, das schräg auf dem Kopf saß, exakt im richtigen Winkel nach rechts geneigt. Es hatte eine schwarze Einfassung und eine Silbernadel, die genau im Zentrum befestigt war und die Aufschrift
Ruhmreiches Southam
trug. Er liebte seine Uniform und hasste alles andere.
    Er hasste es, marschieren zu lernen. So sehr er sich auch bemühte (und in der ersten Woche bemühte er sich sehr), es fehlte ihm jegliche Exaktheit der Bewegungen. Hasste es, ständig von seinem Ausbilder angebrüllt zu werden. Er hasste es, von den älteren Jahrgängen schikaniert zu werden. Hasste es, mit anderen in schlüpfrigen, glänzenden Gruppen zu duschen, wie sie schrien, lachten und mit nassen Handtüchern um sich schlugen. Hasste es, in langen Reihen zu pinkeln, weil er nicht pinkeln konnte, wenn andere in der Nähe waren. Alle anderen konnten offenbar auf Befehl pinkeln, nur er stand da und sah aus, als ob er an sich herumfummeln würde, quälte sich ab, und nichts kam heraus. Er hasste es, zu sechst in einem Raum zu schlafen, hasste all die Akzente, vom tiefen Süden, über den mittleren Westen bis zum Nordosten. Hasste dieses nassforsche Gehabe der Yankees, ihre übermäßige Selbstsicherheit, ihre abgrundtiefe Stupidität. Hasste die Lehrer, den Unterricht, die Gebäude, das kalte feuchte Wetter, den Regen, der ihm in den Kragen lief, die stumpfsinnige Kleinstadt, die fünf Kilometer westlich in einem vom Bergbau verwüsteten Tal lag und Tag und Nacht, außer sonntags, grauschwarzen Rauch in die tiefhängende Wolkenschicht blies. Er hasste den Pfarrer, der das Gebet der Jungen bei der Morgenandacht leitete, hasste Major J. K. Kellum, der hier anscheinend das Sagen hatte, hasste die amerikanische Fahne, hasste das Essen. Hasste es, nachts nicht zu schlafen, sich im Dunklen selbst zu befingern, als einziger in der ganzen Schule Nacht für Nacht für Nacht zu onanieren, Wichser, blass wie der Mond, weich wie ein Mädchen, keiner zu Hause, keiner da, nur ein Schattenreiter auf der Nachtluft, unsichtbar, Bobby ist verschwunden, Bobby ist nicht da. Er hasste das

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