Ausgesetzt
Dunkelheit.
»Walker?«, sagte Krista. Ihre Stimme klang jetzt weich.
»Ja?«
»Bei mir klingelt’s auf drei Leitungen. Ich muss jetzt Schluss machen.«
»O. K.«
»Walker?«
»Ja?«
»Nichts.« Ein kurzes Schweigen. »Bis bald«, sagte sie und legte auf.
Walker stieg in den Wagen, fuhr zurück und parkte wieder hinter den Toiletten. Er schaltete Scheinwerfer und Motor ab, stieg wieder aus, öffnete die hintere Tür und stieg ein. Sein Haar war patschnass.
Er kurbelte ein Fenster ein paar Millimeter herunter, um Luft hereinzulassen, versperrte die Türen, zog sich die Schuhe aus und legte sich auf den weichen Rücksitz. Obwohl er die Beine anzog, stieß er mit dem Kopf an die gepolsterte Armlehne an der Tür. Schon spürte er die Kälte. Er zog seine Lederjacke eng um sich und schloss die Augen. Lange lag er so da, lauschte dem niederprasselnden Regen und dachte an Krista.
Er dachte, er würde nie einschlafen. Er versuchte sich abzulenken, indem er sich den French River vorstellte. Im August hatte er ihn vom Busfenster aus gesehen, wie er tief und schwarz in seinem Canyon floss, und kraftvoll auf das offene Gewässer der Georgian Bay zuströmte. Seine Gedanken kehrten zu dem Auto zurück, das auf dem Highway vor der Telefonzelle fast angehalten hatte. In der Dunkelheit hatte er es kaum sehen können, nur ein paar verschwommene Lichter. Aber er wusste, dass er im Licht der Deckenlampe in der Telefonzelle deutlich zu sehen gewesen war. Er beschloss, diesen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.
Er versuchte, sich das Sommerhaus der Nuremborskis vorzustellen, so wie Kim es ihm beschrieben hatte, viel größer als ihre Blockhütte, mit Türmchen und allem Drum und Dran. Er versuchte, sich einen kleinen Jungen vorzustellen, der auf den Stufen dieses Sommerhauses saß. Versuchte, sich auch die Eltern des kleinen Jungen vorzustellen. Er sah den vertrauten Umriss seiner Mutter, ihr Gesicht jedoch war verdeckt. Wie immer.
Das Gesicht seines Vaters sah genauso aus wie das des Mannes im Rollstuhl.
[home]
18
1995
D etective Sergeant Wilfred Kiss von der Mordkommission der Polizei in Toronto machte die nächste Bierdose auf. Er war weder betrunken noch nüchtern, sondern kreuzte in dem rosaroten Nirwana dazwischen.
Es war zum Ritual geworden. Einmal im Monat fuhr er zu seinem Freund draußen im Osten Torontos, setzte sich auf die große, mit Fliegengittern versehene Veranda an der Rückseite des Hauses und trank ein paar Bier. Egal ob Sommer oder Winter, sein Freund wollte immer draußen sitzen. Schien irgendwie das richtige zu sein. Was es auch war, das er tief in seinem Herzen mit sich herumschleppte, es war zu groß für drinnen. Kiss erinnerte sich an unzählige Male, an denen der Schnee durch die Fliegengitter hereingeweht war, und sie beide trotzdem da draußen auf Liegestühlen saßen und kaltes Bier tranken.
Die Bäume im Garten leuchteten in allen Farben. Ein scharfer Geruch, fast wie von einem Laubfeuer, lag in der Luft, obwohl niemand mehr Laub verbrennen durfte.
Kiss warf einen Blick auf seinen Freund, dessen Gesicht aussah, als sei es zu oft gewaschen worden oder vielleicht zu lange unter Wasser gehalten worden. Weich. Verquollen. Beinahe lumineszierend. Wovon? Von Kummer? Schmerz? Gedanken an das Unaussprechliche?
Kiss war dem Tod so oft begegnet, dass er dessen Schrecken kaum mehr wahrnahm. Leichen, tonnenweise.
Wieder blickte er zu seinem Freund. In der letzten halben Stunde hatten sie kein Wort gewechselt. Ein neuer Rekord. In Wahrheit waren ihnen Worte von Bedeutung schon vor vielen Jahren ausgegangen. Die einzigen Themen, die ihnen eingefallen waren in den letzten Jahren, waren, je nach Jahreszeit, Baseball und Politik, Football und Politik oder Eishockey und Politik. Sie hatten nicht über den Sohn oder die Frau des Mannes gesprochen. Seit Jahren nicht mehr.
»Hübsch, die Blätter«, sagte Kiss.
»Ja. Sehr hübsch.«
»Echt schade, dass man sie nicht mehr verbrennen darf. Weißt du noch, wie man früher die Straßen entlangschauen konnte, und überall gab es diese leuchtenden Laubhaufen? Da konntest du mit dem Rad mitten durchfahren, und die Funken flogen in alle Richtungen. Den Arsch konntest du dir auch verbrennen.«
»Ja, weiß ich noch.« Aber er lachte nicht.
Kiss schenkte sich noch mehr Bier aus der Dose ein und sah zu, wie es an den Seiten des Glases hinunterlief.
Sein Freund wusste über den Tod noch besser Bescheid als er selbst. Kiss war eine Art Voyeur auf diesem
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