Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
Vom Netzwerk:
nach oben, doch nicht, um sie zu trösten, sondern um seinen Koffer zu holen. Er machte sich fertig für die Abfahrt. Er wollte nicht zum Abendessen bleiben.
    Bobby war hinten in der Diele und beobachtete seine Eltern in der Küche, als sein Vater sagte: »Ich möchte, dass Bobby mich heute abend begleitet.«
    Seine Mutter, die an der Spüle stand und geistesabwesend Kartoffeln schälte für den Kartoffelsalat, den es am Abend geben sollte, drehte sich um und starrte ihren Mann an, als hätte er gerade etwas Unglaubliches gesagt.
    »Wieso?«, fragt sie. Ihre Stimme klang klein und gepresst.
    »Er ist bald sechzehn. Langsam gibt es ein paar Dinge, die er tun kann, nach der Schule und an Samstagen. Botengänge. Soll sich einarbeiten, solange noch Ferien sind. Wird ihm nicht schaden.«
    Sie wandte sich wieder ihren Kartoffeln zu. Von seinem Beobachtungsposten neben der Küchentür kam es Bobby vor, als zitterten ihre Hände. Aber sie stellte keine weiteren Fragen. Er wusste, was sie dachte. Sie dachte an den Jungen, dem er an der Militärakademie in Southam fast den Schädel eingeschlagen hatte. Und wenn schon. Er würde mit seinem Vater in die Stadt zurückfahren. Sein Vater hatte sich entschieden, und zwar für Bobby.
    »Pack ein paar Sachen zusammen, wir fahren jetzt«, sagte sein Vater. Irgendwie wusste er, dass Bobby dastand und ihn beobachtete, auch wenn er sich kein einziges Mal umgedreht hatte, um ihn anzusehen, ihn den ganzen Tag nicht angesehen hatte.
    Bobby hüpfte das Herz im Leibe. Ein Triumphgefühl hatte ihn erfasst.
    Er ging nach oben. Es stimmte, dass er anders war als die anderen. Er hatte sich Alex’ in so außergewöhnlicher Weise bedient, dass es ihn in Ekstase versetzt hatte. Jetzt liebte er Alex. Alex hatte ihm den Weg gezeigt. Doch den Weg wohin, das hatte er noch nicht so richtig verstanden. Den Weg zum Anderssein? Ein Gott zu sein? Die Götter brachten andauernd Sterbliche um. Er hatte ein Bild von einem Gott gesehen, der neben einem toten Mann hockte, die Hände zu einer Schale geformt, aus dem er trank. Die Schale lief über vom Blut des Toten.
    Ein Gott ist den Lenden meines Vaters entsprossen, und er ist vom Donner gerührt, dachte Bobby. Er hatte etwas Ähnliches einmal gelesen – ein Mann, vom Donner gerührt, stand vor einem Gott. Er liebte die griechischen Göttersagen, die römischen und altnordischen. Die Welt wimmelte nur so von Göttern. Die Menschen konnten sie nur nicht sehen.
    Bobby stand oben im Flur und hatte sich ebenfalls für unsichtbar erklärt.
Was sterbliche Augen nicht sehen und sterbliche Herzen nicht ergründen können
. Das war unter einem farbigen Bild von Jakobs Kampf mit dem Engel gestanden. Über ihnen in der sternenklaren Nacht schwebte die goldene Leiter, die in den Himmel führte. Das Bild war in einem Buch gewesen, das ihm einmal ein Verwandter geschenkt hatte. Aber das war so lange her, dass er sich nicht mehr erinnerte. Woran er sich jedoch erinnerte, war das Bild. Stundenlang hatte er es betrachtet.
    Ich bin unsichtbar, sagte er sich.
    Er blickte zur Tür seiner Schwester. Sie hatte sie nur angelehnt. Er stieß sie auf. Sie war in ihr Bett gekuschelt, lag unter der Decke, das Gesicht von ihm abgewandt. Wahrscheinlich weinte sie noch immer über Alex.
    Weine nicht, hätte Bobby beinahe laut gesagt, Alex ist im Himmel. Und er sah Alex vor sich, wie er in einem See im Himmel watete und das perfekte Floß baute. Alle Holzstücke hatten die gleiche Länge und passten zusammen.
    In der Überzeugung, unsichtbar zu sein, betrat er das Zimmer. Leise ging er hinüber zu ihrem Bett. Über dem Laken war nur ihr dunkles Haar zu sehen. Jetzt konnte er tun, was er wollte. Er konnte unter ihre Decke schlüpfen, wenn er das wollte. Er konnte ihr ins Ohr flüstern, dass er ein Gott sei, und sie würde glauben, dass sie träume. Er konnte sich wie ein tiefer Schlaf über sie legen. Er konnte ihr den Atem aussaugen. Er konnte sich zwischen ihre Beine drängen. Sie würde stöhnen und im Traum die Beine um ihn schlingen, sie würden sich umschlungen halten und die Leiter nach oben gleiten.
    Seine Schwester hob den Kopf und sah ihn an, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass er neben ihr stand.
    »Was machst du da?«
    »Nichts«, sagte er. »Ich fahre weg. Vater nimmt mich mit.«
    »Ach so«, sagte sie und legte den Kopf wieder auf das Kissen. Sie wischte sich die Augen ab. Im Dämmerlicht des Zimmers glänzten sie.
    Bobby setzte sich auf die Bettkante. Er war noch nie

Weitere Kostenlose Bücher