Ausgetanzt
Ein
Kribbeln. Sie erinnerte sich an Jonas, seine Haut, sein Haar und wie sie … Sie
hatte ihn lange nicht gesehen, nicht berührt, nicht gesprochen und nicht
geküsst. Zu lange. Ein kleines Schaudern. Vielleicht wurde das von einem
Geräusch aus dem Wald verursacht, das sie nicht zuordnen konnte. Sie schritt
unwillkürlich schneller aus.
Berenike dachte an die bevorstehende Teezeremonie.
Spirituskocher und Thermoskannen mit Wasser würden die anderen Frauen mitbringen.
Berenike selbst sorgte für Tassen und Kräuter aus eigener Sammlung, die sie
›Tee der weisen Frauen‹ nannte. Dazu gehörten Gundelrebe, Hanfblätter und
Beifuß. Das im Lateinischen nach der altgriechischen Göttin Artemis benannte
Kraut würde als Frauenpflanze gut zu der Runde der Tänzerinnen passen. Berenike
stellte ihre Kräutertees intuitiv zusammen, ließ sich auf die Bedürfnisse der
Menschen ein, für die der Tee gedacht war. Meist klappte das gut.
Sie stolperte über eine Wurzel. Eine bitterschwarze
Dunkelheit hatte sich über die Landschaft gelegt, wie Berenike sie erst hatte
kennenlernen müssen. Sternen-Dunkelheit, nur auf dem Land waren die Gestirne so
schön zu sehen. Hier war alles anders als in der Stadt. Im Ausseerland war sie
glücklich, glücklich wie selten zuvor in ihrem alten hektischen Leben als
Eventmanagerin. Aber so ein Moment in der Dunkelheit ließ ihr die Begrenzung
ihrer Freiheit bewusst werden. In der Stadt, wo sie früher gelebt hatte und von
wo sie freiwillig weggezogen war, war sie kaum jemals eingeschränkt,
Straßenlaternen leuchteten alles aus. Verdammt, sie hätte nicht allein zu dem
Treffpunkt gehen sollen. Plötzlich war sie sich unsicher, ob sie überhaupt noch
auf dem richtigen Weg war. Sie schritt rascher aus und kam ins Keuchen. Blieb
einen Moment stehen. Ließ die Taschenlampe über die Umgebung schwenken. Ein
Einerlei von Bäumen, nichts Besonderes. Sie musste doch gleich da sein!
Ein Knall von irgendwo, vielleicht der Schuss eines Jägers.
Berenike verabscheute das Töten von Tieren und kannte sich mit dem Thema Jagd
nicht aus. Wahrscheinlich hatte die Jagdsaison begonnen, sie wusste es nicht
genau. Sie glaubte, Schritte hinter sich zu hören. Sie lauschte, roch in den
Forst mit seinen kühlen, dunklen Baumstämmen hinein. Da vorne wurde es heller.
Eine winzige Lichtung, eine einzelne Linde war zu erkennen, vor einer Erdmulde.
Sie spürte ein Keuchen, das nicht von ihr selbst kam. Da, Schritte. Nein. Das
war jetzt … zu viel war das. Sie drehte sich um.
»Hej, Berenike!«
»Helena«, sie schluckte mühsam, »g-grüß dich.«
Fröhlich umarmte die groß gewachsene Helena Berenike. Sie
kannten sich, weil Helena als Gaifahrerin das Brot aus Berenikes
Lieblingsbäckerei auslieferte. »Wie geht’s dir? Wir müssen endlich unsere
Séance planen!« Obwohl sich Berenike mit der immer gut aufgelegten
Mandalamalerin, die als zweites Standbein das Brot von Berenikes
Lieblingsbäckerei auslieferte, bald nach ihrem Umzug hierher angefreundet
hatte, schafften sie es nie so recht, etwas gemeinsam zu unternehmen. Jetzt strahlte
die Malerin noch mehr als sonst. »Aber ich hab ganz andere Neuigkeiten. Ich hab
jemand kennengelernt. Einen echt süßen Kerl.« Helena fuhr sich durch das
neuerdings blond gefärbte, kurze Haar. »Er ist aus Linz. Stell dir vor, ich
find kaum Zeit für meine neue Ausstellung. Aber bis zur Vernissage ist noch ein
bissl Zeit hin.« Helena war als Künstlerin ziemlich erfolgreich, offenbar traf
sie mit ihren kreisrunden bunten Bildern einen Nerv der Zeit. Den Halbtagsjob
in der Bäckerei behielt sie trotzdem, er war ein sicheres Einkommen.
»Aber schau, wir sind gleich da.«
Tatsächlich, da stand schon ein Grüppchen beisammen. Die
Szene wurde nur vom flackernden Licht einer Fackel erhellt. Eine große,
schlanke Frau mit wehenden Haaren ging ruhelos hin und her, als Berenike und
Helena näherkamen. Mit einem Mal fühlte sich Berenikes Last zentnerschwer an.
Sie nahm den Rucksack von den Schultern und stellte ihn ab, dann seufzte sie
erleichtert auf. Mehrmals atmete sie tief durch.
So sah also der mystische Ort aus, von dem Caro gesprochen
hatte. Berenike hörte das sanfte Läuten von Glöckchen, dann ein zartes »Mäh«.
Schafe! Im Finsteren waren nur vereinzelt die weißen Tiere der Herde zu
erkennen, hier in der Gegend gab es typischerweise mehr schwarze.
Plötzlich wurde Berenike die Stille bewusst. Die Frauen
musterten sie abwartend. Der Mond trat hinter einem Berggipfel
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