Ausgeträllert (German Edition)
Abendschuh, dunkelrot. Leider nicht meine Schuhgröße. Welches Aschenputtel den wohl verloren hat, dachte ich. Was mich sofort daran erinnerte, dass ich die Pantry noch putzen musste. Und zwar jetzt. Raoul würde das Schiff nicht eher verlassen, bis alles restlos sauber und aufgeräumt war. Ich ließ den Schuh ins Wasser fallen und richtete mich auf.
Racic versperrte mir im Eingang den Weg. »Scheiße. Dieses Sauwetter ... Hey!«, rief er dem Knipser zu. »Mach du wenigstens gleich noch ein paar Fotos, wenn La Rose von Bord geht.«
»Darf ich mal, Herr Racic?«, sagte ich und versuchte, mich an ihm vorbeizudrängeln. Er hatte beide Arme in den Türrahmen gestemmt und reagierte nicht.
Der Knipser tauchte hinter ihm auf. »Falko, ich ruinier doch nicht meine Kamera. Ich fahr jetzt nach Duisburg. Ich hab genug Material. Ob sie an Bord geht oder von Bord kommt, ist nur eine Sache der Bildunterschrift. Wir sehen uns morgen bei der PK.«
Racic gab die Tür nicht frei und sagte: »Guck gefälligst oben nach, ob sie da ist, und wenn sie da ist, dann mach Fotos! Herrgottnochmal. Wofür wirst du bezahlt?«
»Okay, okay ...«, sagte der Knipser und ging. Racic grinste mich an und ließ mich passieren. Ich grinste zurück. Endlich mal jemand, der den Knipser zum Arbeiten schickt.
Als ich in die Pantry ging, war er alles andere als auf dem Weg zum Oberdeck. Er saß auf der Treppe und fummelte an der Kamera herum.
»Na, keine Lust deinen Auftraggeber glücklich zu machen?«, fragte ich.
»Der kann mich mal«, antwortete er. »Ich find es viel interessanter, dir beim Putzen zuzugucken. Das ich das noch erleben darf.«
»Werde ich heute noch erleben, dass hier endlich mal jemand das tut, wofür er bezahlt wird?«, bellte Racic vom Eingang. Der Knipser hob die Kamera, machte ein Foto von ihm und ging dann in aller Ruhe die Treppe hinauf.
In der Pantry öffnete ich das Bullauge, um frische Luft hereinzulassen. Da, wo vor ein paar Minuten noch ein Mülleimer gestanden hatte, saß Raoul erschöpft auf einem Bierfass und beachtete mich nicht. Es machte ihm offenbar schwer zu schaffen, dass er die Fotografen und die Leute vom Fernsehen verpasst hatte. Ich nahm einen Lappen und schob die Brotkrümel von der Anrichte in meine hohle Hand. Dann wusste ich nicht, wohin damit.
»Wo ist der Müll?«
»Weisse nicht. Werfe Krümel aus die Fenster. Fische freut sich«, murmelte Raoul.
Ich zuckte die Schultern, hielt die Hand aus dem Bullauge und ließ die Krümel in den See fallen. Als ich meine Hand wieder zurückzog, war sie voller Blut. Ich wartete auf den Schmerz, aber er kam nicht. Ich wischte das Blut ab – meine Hand war nicht verletzt. Zaghaft streckte ich sie noch einmal nach draußen. Es tropfte warm auf meine Hand. Ich schob meinen Kopf nach draußen und schaute nach oben. Stoff wehte klatschend im Wind. Ich blinzelte, denn der Regen machte es nicht leichter, irgendetwas erkennen zu können. Dann hörte ich den Knipser schreien. Etwas auf dem Oberdeck fiel polternd zu Boden. Ein Blitz zuckte über den Himmel und ich sah, kaum einen Meter über mir, den Kopf der Nachtigall baumeln. Ihre toten Augen starrten mich an, und Blut tropfte aus ihren nassen blonden Haaren auf mein Gesicht. Ihre schlaffen Arme streckten sich mir entgegen und hätten mich beinahe berührt. Ich konnte die klaffende Wunde an ihrem Hals sehen und schrie auf. Rückwärts taumelnd fiel ich in Raouls Arme.
»Wasse du gemacht?«, sagte er und wischte hektisch mit einem Geschirrtuch in meinem Gesicht herum.
»Nix, das ist nicht mein Blut …« Ich hatte meine Stimme kaum unter Kontrolle.
Raoul schob mich weg und guckte selbst hinaus. »Was isse das?«, schrie er. »Was isse das!?«
»La Rose«, stammelte ich. »Das ist Dolores La Rose.«
Dann sah ich Jorgo, gefolgt von Racic, im Eingang des Salons stehen.
»Was’n hier los?«, fragte er.
In dem Moment kam der Knipser die Treppe herunter. In der Hand hielt er eines von Raouls japanischen Kochmessern. Blut tropfte von der Klinge auf die weiße Metalltreppe. Hinter ihm wankte Wolfi, seine weiße Kochmontur war blutbesudelt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und er hielt mit der Linken sein rechtes Handgelenk umklammert.
Jorgo drehte sich auf dem Absatz um und rannte vom Schiff.
Wolfi ließ den Kopf hängen, Speichelfäden liefen aus seinen Mundwinkeln und er wimmerte: »Mama, aua, aua, Mama ...«
Raoul nahm ihn bei der Hand und wischte ihm den Mund ab. Dann lotste er ihn zu einem Stuhl und untersuchte
Weitere Kostenlose Bücher