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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Zannoner
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Decke, sondern auf das hässliche Bild an der gegenüberliegenden Wand, jedoch ohne die grellen Farben und die Konturen zu sehen, denn du bist bereits irgendwo anders, dort, wohin nur die synthetischen Klänge der elektronischen Musik kommen.

Abends
    Du liegst auf deinem Bett, es ist schon sehr spät, denn das Einschlafen fällt dir wie immer schwer. Du schläfst nie mehr als fünf Stunden am Stück, dann wachst du benommen auf. Doch deine Sinne sind hellwach, du kannst jedes einzelne Geräusch im Haus hören: Wasser rauscht durch die Leitungen, es knarrt, brummt und summt, vielleicht ein Kühlschrank oder der Heizkessel, dumpfe Schläge, als würde etwas zu Boden fallen. So ähnlich wie in diesem Buch, das du deinem Bruder vorgelesen hast. Da ging es um Ausstellungsstücke in einem Museum, die in der Nacht zum Leben erwachten und sich wilde Schlachten lieferten, die erst bei Sonnenaufgang endeten. Vielleicht werden auch bei euch die Einrichtungsgegenstände nachts lebendig, vielleicht verschwinden deshalb bei euch so viele Dinge? Deine Mutter klagt immer: »Wo könnte das nur abgeblieben sein?« Es gibt nur eine einzige Erklärung: All die nicht auffindbaren Scheren, Bleistifte, Silberlöffel und Nagelfeilen sind womöglich die Waffen eines unsichtbaren Heeres, die bei den nächtlichen Kämpfen zerstört wurden oder verloren gegangen sind.
    Der Radiowecker zeigt zwei Uhr vierzehn und die Nachttischlampe wirft ihr weißes Licht gegen die Wand neben dem Sofa. Du hast den Lampenschirm so gebogen, dass dir das Licht nicht in die Augen scheint, du aber im Halbdunkel irgendetwas hast, woran du dich orientieren kannst, um dann die Augen zu schließen und einzuschlafen.
    Aber sobald die Lider zugeklappt sind, siehst du wieder das gelbliche Wasser des Flusses vor dir, in den du dich mit dem Rollstuhl hattest stürzen wollen. Dann läuft in deinem Kopf alles gleichzeitig ab: der Sturz, das Eintauchen, der Schrei deiner Mutter, dein Körper in einem Sarg und der unerträgliche Schmerz all derer, die dich lieben. Das ist zu viel, der Druck in deiner Brust nimmt dir fast den Atem. Du reißt die Augen wieder auf und der vertraute Anblick des Wohnzimmers beruhigt dich. Dein Gesicht ist tränenüberströmt, denn in deiner Vision ist deine Mutter vor Schmerz zusammengebrochen, dein Vater hat sich ganz in seine Trauer zurückgezogen, deine Großeltern waren gramgebeugt, Manlio hat das Gesicht in beiden Händen verborgen und geweint, Viola hat geschluchzt. Und du hast mit ihnen geweint, alle ihre Tränen über deinen imaginären Tod, der so tragisch, so exzessiv war, dass er dir schließlich geradezu lächerlich vorkommt.
    Du setzt dir die Kopfhörer auf und suchst im Radio nach Violas Sender. Ein Typ erzählt etwas, ganz leise, als hätte er Angst, jemanden zu wecken. Und als würde er nur mit dir reden, sagt er mit sanfter Stimme: »An alle, die jetzt arbeiten müssen, wie ich, an alle, die gerade am Steuer sitzen – denkt dran, fahrt vorsichtig! – und an all diejenigen, die einfach nicht schlafen können: Nun, meine lieben Nachteulen, hört euch diesen Song von Primus an und sagt mir dann, ob das nicht genau auf euch zutrifft.«
    Seine letzten Worte sind nur noch ein Flüstern, dann dringt die Musik in deine Ohren und strömt wie ein Wasserfall durch deinen Körper. Dieses Mal schließt du die Augen, denn es fühlt sich an, als würdest du im blauen Wasser des Schwimmbeckens liegen, der schönste Ort in deinem neuen Leben.
    Vornübergebeugt saß er am Rand des Schwimmbeckens, die muskulösen Arme angewinkelt, das Kinn in die Hände gestützt. Er hat dir einen Blick zugeworfen und dir halb zugenickt, als wollte er dich grüßen. Die Physiotherapeutin hat dir ins Wasser geholfen und deine Bewegungen gesteuert, aber du musstest immer den jungen Mann am Beckenrand ansehen, der dasaß, als würde er auf jemanden warten. Dann war er ins Wasser geglitten und mit kräftigen Stößen ans andere Ende des Beckens geschwommen.
    »Wer war das? Ein Krankenpfleger?«, hast du die Physiotherapeutin gefragt und sie hat geantwortet: »Nein, ein ehemaliger Patient, er heißt Ruben.«
    »Warum kann er so gut schwimmen?«
    »Alles eine Frage des Trainings. Das kannst du auch.«
    Du hattest ihn im Auge behalten, konntest deinen Blick nicht von seinen kraftvollen Schwimmbewegungen abwenden, von dem Wasser, das um ihn herum aufspritzte, dem mächtigen Brustkorb, der das Wasser durchpflügte, dem Kopf, den eine unsichtbare Hand über der

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