Ausgewechselt
warteten auf das Zeichen, in die Startblöcke zu gehen. In wenigen Augenblicken würde der Starter das Signal geben und sie würden losstürzen, wie Raubvögel auf Beutejagd.
Etwas abseits der Bahn saß Violas Trainer und betrachtete wohlwollend die Entschlossenheit und Konzentration seines Schützlings. Die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Hände verschränkt, beugte sich Sirio nach vorne, um Violas Gedanken zu erraten. Das war das erste große Rennen ihres Lebens, noch dazu international besetzt. Neben ihm fieberte Leo mit, er umklammerte die Armlehnen des Rollstuhls, die Anspannung hatte ihn gepackt. Er versuchte cool zu wirken, denn obwohl er weit von der Startlinie entfernt war, wollte er vermeiden, dass sich seine Nervosität auf Viola übertrug. Plötzlich blickte sie auf, genau in ihre Richtung, als würde sie die innere Unruhe der beiden spüren. Dieser kurze Blick genügte, um sich zu vergewissern, dass sie nicht alleine war, dass nicht nur Sirio da war, um sie zu unterstützen, sondern noch jemand, der viel wichtiger war und der in Gedanken mit ihr laufen würde: Ihr Freund, Leo.
Das war Violas Wettkampf, aber gleichzeitig auch der von Leo, denn sie hatten die vergangenen Monate gemeinsam auf diesen Tag hingearbeitet. Viola ließ noch einmal den Winter und den Frühling vor ihrem inneren Auge vorüberziehen, jeder Tag war gespickt mit Hindernissen, genau wie die Hürden auf dieser Aschenbahn.
Als sie vor zwei Jahren mit dem Training angefangen hatte, war ihr das alles »zu viel« gewesen. Die furchteinflößende Höhe der zu überwindenden Hindernisse und der viel zu kurze Abstand zwischen den einzelnen Hürden. Sie war wütend gewesen, hatte geweint, weil sie immer wieder dagegenlief, den Rhythmus, die Koordination und den Schwung verlor. So eine Disziplin konnte sich nur ein Masochist ausgedacht haben, hatte sie gedacht, jemand, der diese Qualen an jedem Hindernis aufs Neue genießen wollte. Sie hatte lernen müssen, dass alles vom richtigen Rhythmus abhing, genau wie in der Musik. Mochte ihr sonstiges Leben noch so chaotisch und verwirrend sein, auf der Bahn musste alles stimmen, alles war klar geordnet und strukturiert. Das wusste sie zu schätzen, auf dieses Ziel arbeitete sie hin, hier konnte sie ein Hindernis überwinden, indem sie ganz einfach im fließenden Rhythmus im richtigen Moment absprang. Ihre depressive Mutter, ihr gleichgültiger Vater, ihr trostloses Zuhause – all das wollte sie überwinden, es spornte sie an, das war ihre Motivation. Ihre Kindheit hatte sie mit der Illusion verbracht, eine echte Familie zu haben, aber Viola weinte dieser Scheinwelt nicht nach. Sie definierte sich nicht über die Vergangenheit, sondern über die Zukunft, über das, was sie erreichen konnte. Und jetzt hatte sie die Chance, sich zu beweisen, ein Traum konnte Wirklichkeit werden. In Erwartung des Startsignals fieberte sie dem Lauf ihres Lebens entgegen, unter den Augen ihres Freundes, der in Gedanken bei ihr war.
Bevor sie in den Startblock ging, warf sie Leo noch einen Blick zu, denn für Viola war er die wichtigste Herausforderung in ihrem Leben.
Erste Hürde
Es war Leos erster Schultag, und Viola fieberte mit, als wäre es ihr eigener. Sie starrte auf die Uhr und wartete auf den Moment, wenn Leo in der Tür erscheinen würde. Die Lehrerin hatte die Mitschüler darauf vorbereitet, dass ihr Klassenkamerad an diesem Morgen endlich wiederkommen würde. Sie hatten eine Überraschung vorbereitet und Viola, die drei Mal in der Woche bei ihm zu Hause mit ihm lernte, hatte nichts verraten.
Leo kam um neun, zusammen mit seiner Mutter und einem Begleiter. Erst jetzt wurde Viola bewusst, dass Leo im Schulgebäude ohne fremde Hilfe nicht zurechtkommen würde. Die beiden Stufen am Eingang, die Glastür mit dem hohen Griff, die steile Treppe in den zweiten Stock, für die anderen war das kein Problem. Aber für Leo. Zum ersten Mal überkam sie Wut auf diesen düsteren alten Kasten, der ihr in diesem Moment wie ein Gefängnis vorkam, herzlos und gleichgültig gegenüber Jung und Alt.
Ich wurde in die Schule getragen. Mein Begleiter hat die Figur eines Bodybuilders. Er hebt mich aus dem Auto, als wäre ich eine Feder. Das geht mir fürchterlich auf die Nerven, er könnte wenigstens so tun, als müsste er sich anstrengen. Er scheint mich für eine Trainingshantel zu halten, aber eine leichte, wie sein ruhiger Atem verrät. Während er die Treppe in den zweiten Stock hochsteigt, witzelt er auch noch
Weitere Kostenlose Bücher