Ausgewechselt
noch jünger als du. Er war eine Art Tutor, der Tutor für ein neues Leben.
Seine Aufgabe bestand in der Kommunikation, aber im Gegensatz zu Silvia, die bei ihrer Therapie den Sinn der Worte hinterfragte und nach Lösungen suchte, quatschte Ruben einfach drauflos. Er erzählte dir von irgendwelchen Filmen oder empfahl dir ein Buch, das ihm gefallen hatte. Sein Lieblingsthema aber waren Mädchen, er fragte dich nach deinen Verflossenen aus. Er hatte immer etwas zu erzählen, seien es Geschichten aus seinem Leben oder Anekdoten aus Romanen, manchmal erklärte er dir sogar Theorien aus einem Sachbuch, mit dem er sich gerade beschäftigte, und fragte dich nach deiner Meinung. Es kam dir seltsam vor, dass er einen Fünfzehnjährigen nach seiner Meinung fragte, immerhin war er an der Uni und studierte Philosophie.
An diesem Tag muss er ganz in der Nähe des Fensters gesessen haben, denn in seinen Augen spiegelte sich das Licht, das von draußen hereinfiel. »Du befindest dich jetzt noch im Grenzgebiet, aber wenn du ins reale Leben zurückkehrst, wird dir alles verändert vorkommen und du wirst dich an das Neue gewöhnen müssen, wie einer, der aus der Verbannung zurückkommt«, hatte er dir erklärt. Dann hatte er versucht, die Situation anhand seiner eigenen Geschichte zu verdeutlichen, die so ganz anders als deine war, und du hattest bezweifelt, dass man da überhaupt Parallelen finden konnte.
Ruben war zwanzig gewesen, als man ihn aus einem Blechhaufen auf der Autobahn gezogen hatte. »Du kennst doch diese Horrornachrichten aus dem Fernsehen, über die schrecklichen Unfälle am Wochenende und die Aufzählung der Toten und Verletzten? Tja, wenn man das hört, denkt man natürlich nicht daran, dass es mal einen selbst treffen könnte, aber dann bist du auf einmal mittendrin in diesem Inferno, eingeklemmt zwischen zwei Autowracks und die Feuerwehr muss dich herausschneiden. In diesem Moment verschwindest du aus deinem Leben, wirst ein Anderer, ein Verbannter.«
Deine Augen sind geschlossen, die Musik hüllt dich ein, du bist irgendwo zwischen Dämmern und Tiefschlaf und in deinem Kopf vermischen sich Vision und Erinnerung.
Rubens Stimme spricht in deinem Kopf, aber die Gedanken sind deine eigenen, du denkst noch mal über das nach, was er gesagt hat: »Wir sind Verbannte.«
Ja, wir sind Verbannte, wir leben zwar in der gleichen Welt wie die anderen, gehen aber einen Mittelweg, wie jene, die ihr Zuhause verlassen müssen und nicht mehr zurückkehren können, die von einem Land zum anderen ziehen, deren Erinnerungen aber immer wieder nach Hause und zu ihrer Familie zurückwandern. Die Verbannten passen sich an das Leben in der Fremde an, sie lernen die Sprache, machen sich die dortigen Sitten und Gebräuche zu eigen, aber sie leben nur für den Moment der Rückkehr in die Heimat. Und auch wenn sie die fremde Sprache fließend beherrschen, sich wie die Einheimischen kleiden und sich perfekt integrieren, wird etwas in ihnen immer fremd bleiben, man wird ihnen immer anmerken, dass sie Verbannte sind. Es ist ein Stigma. Ein leichter Akzent, eine etwas übertriebene Geste, und die anderen wissen sofort, dass sie anders sind. Vielleicht braucht es das nicht einmal, vielleicht genügt allein schon der Ausdruck in den Augen der Verbannten, die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, die sich in ihr Gesicht malt und sich nicht abwaschen lässt, nicht einmal mit einem Meer von Tränen. Diese Sehnsucht ist es, die bisweilen Rubens Blick verschleiert und Trauer über sein Lächeln legt.
Aber vielleicht bildest du dir das auch alles nur ein, während du dich mit aller Kraft an den Schlaf krallst und langsam entschwindest.
Das Rennen
Unbeweglich wie eine Statue ließ Viola die 100-Meter-Distanz mental an sich vorbeiziehen. Ihr Blick schien die Hürden hypnotisieren zu wollen, zehn zerbrechlich wirkende, schwarz-weiß lackierte Hindernisse mit nur wenigen Metern Abstand voneinander. Die Hände in die Seiten gestemmt, die Augen starr nach vorne gerichtet, war Viola ganz auf den Lauf konzentriert, in ihrem Kopf absolvierte sie Schritt für Schritt, ging die Technik durch, den Rhythmus und den punktgenauen Absprung vor den Hürden. Die Rivalinnen links und rechts von ihr bereiteten sich anders vor, sie ließen den Kopf kreisen, um die Nackenmuskeln zu entspannen, massierten sich die Oberschenkel, deuteten kurze Sprints an, schlenkerten mit den Armen oder saßen in sich gekehrt auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen.
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