Ausgewechselt
Gespräch beendet ist. Dabei macht sie ein verdrießliches Gesicht. Sie scheint sich mit ihrem Vater nicht besonders gut zu verstehen.
»Und was meint deine Mutter dazu?«, bohrst du weiter, denn du hast keine Lust, mit den Aufgaben anzufangen. Dir gefällt es, so dazusitzen und dich zu unterhalten. Es ist eigentlich ganz einfach, mit einem Mädchen zu plaudern, du musst nur ein paar Fragen stellen und schon fängt sie an zu reden wie ein Wasserfall, danach ist sie es dann, die das Gespräch aufrechterhält. Es ist ganz anders als mit deinen Kameraden aus der Fußballmannschaft. Manchmal habt ihr Stunden zusammen beim Training verbracht und kein einziges Wort gesprochen. Höchstens mal eine scherzhafte Bemerkung, ein Witz oder ein Kommentar über jemanden, den ihr kanntet. Als sie dich im Krankenhaus besucht haben, sind sie nicht sehr viel gesprächiger gewesen. Sie haben einfach dagestanden, verlegen um dein Bett geschart, dann hat Manlio das Gespräch gezielt auf die einschlägigen Themen gebracht, ihr habt über Ergebnisse und Tabellen gesprochen und über die Meisterschaftschancen der Spitzenklubs, habt die Torschützenrangliste und diverse taktische Spielzüge erörtert. Das Ganze natürlich in Fußballersprache, einem Fachchinesisch, das sonst niemand versteht: Deckung, Vertragsspieler, hängende Spitze, Aufsetzer, Abschluss. Wer dieses Vokabular beherrscht, gehört dazu, ist privilegiert.
Viola blickt wieder auf, sieht dir aber nicht in die Augen. »Meine Mutter … Sie gefällt sich immer noch in der Opferrolle. Sie vegetiert dahin, weiß noch nicht einmal, was für einen Tag wir haben. Sie hängt den ganzen Tag nur rum, sie hat keine Ahnung, wann ich aus der Schule komme. Und wenn ich meinen Vater nur erwähne, geht sie an die Decke. Wenn ich ihr erzähle, dass ich mit ihm Ski fahren gehe, bringt sie sich um.« Dann lacht sie gequält, um ihre Worte herunterzuspielen. »Mir kommt es vor, als seien sie schon eine Ewigkeit getrennt. Aber sie will die Situation einfach nicht wahrhaben. Sie müsste endlich wieder etwas für sich tun, aber keine Chance. Hin und wieder sieht es so aus, als würde sie sich aufraffen, dann räumt sie auf, geht einkaufen, und es sieht so aus, als hätte sie die Trennung überwunden. Aber am nächsten Tag liegt sie wieder auf diesem verdammten Sofa, raucht und starrt in die Glotze. Ich glaube, sie ist lieber mit den Menschen aus dem Fernsehen zusammen als mit mir.«
Viola beginnt eine TV -Moderatorin zu imitieren, die ihre Gäste immer so lange provoziert, bis sie weinen, eine dieser idiotischen Sendungen, in denen die Gäste ihre persönlichen Problemchen zur Schau stellen, vor dem mitfühlenden Gesicht der Moderatorin, die ungeduldig auf die Tränenfluten wartet. Am Ende müsst ihr beide lachen.
Viola wechselt das Thema. »Kennst du dieses Lied, in dem es heißt ›Mein wütendes Gesicht passt nicht in das System, in dem alle gleich sein sollen, mit einem Lächeln auf den Lippen‹?« Sie rappt einen Text von 99 Posse, aber du kennst das Lied nicht. Du hörst nur amerikanische und englische Songs, die im Radio oder im Fernsehen gespielt werden. Italienische Lieder interessieren dich nicht, sie gefallen dir nicht. Sie hingegen singt jetzt den Refrain: »Ihr werdet mich nie so haben, wie ihr mich haben wollt.« Dann sagt sie: »Ich bringe dir die CD mit, sie wird dir bestimmt gefallen.«
»Woher kennst du den Song?«
Sie zieht überrascht die Augenbrauen hoch. »Aus dem Radio.« Sie nennt einen Sender, von dem du noch nie gehört hast, und fügt hinzu: »Ich höre den oft, vor allem abends in meinem Zimmer. Ich hasse Fernsehen.«
Du stellst dir Viola vor, wie sie auf dem Bett liegt und Radio hört, dann fragst du unvermittelt: »Und was machst du dabei?«
»Wie, was ich mache? Nichts. Ich höre einfach zu.«
»Genau wie ich«, sagst du mit einem bitteren Lächeln, während sie dich immer noch fragend ansieht. Als wollte sie sagen, dass zuhören doch mehr als genug ist. Aber dir kommt es immer so vor, als würden die anderen alles Mögliche tun, während du nur auf dem Sofa liegst und zuhörst, wie eine Stimme mit einem gefakten englischen Akzent die aktuelle Disco-Hitparade vorstellt. Und jetzt wird dir klar, dass auch Viola abends in ihrem Zimmer auf dem Bett liegt und vielleicht die Decke anstarrt, während sie ihren Lieblingssong hört und womöglich sogar leise mitsingt. Sie blickt an die Decke und träumt mit offenen Augen, wie du auch. Du starrst allerdings nicht an die
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