Ausgewechselt
Viola zu, während deine Mutter ihren Kopf aus der Küche steckt: »Hallo, Viola, geht’s dir gut?«
Viola nickt und lächelt schüchtern. Ihr geht ins Wohnzimmer, sie nimmt den Rucksack ab und schüttelt sich, als wäre sie gerade dem Würgegriff einer Riesenschlange entronnen.
»Ich bin zu spät, tut mir leid.«
»Ist mir gar nicht aufgefallen«, lügst du, während du sie musterst. Sieht sie wirklich besorgt aus oder bildest du dir das nur ein? Ihr Gesichtsausdruck ist angespannt, ihre Augen wirken müde und ihr Lächeln etwas gezwungen. Vielleicht läuft es in der Schule nicht so perfekt, sie will ja immer die Beste sein. Vielleicht hat sie nur eine Zwei bekommen statt der üblichen Eins?
»Wie war’s in der Schule?«
»Wie immer.« Sie erzählt vom Unterricht und den Lehrern und was an diesem Morgen sonst passiert ist: Unterrichtsstoff, Hausaufgaben, Klatsch und Tratsch. Sie sitzt neben dir am Woh nzimmertisch und streicht sich immer wieder die Haare aus dem Gesicht, obwohl sie so kurz sind. Eine typische Mädchenangewohnheit, die Sache mit den Haaren, sie können die Finger nicht davon lassen, streichen sie glatt, drehen sie im Nacken zusammen, rollen sie um das Handgelenk. Lange seidige Haare, braun oder blond, das gefällt dir bei Mädchen beson ders. Violas H aare sind fast schwarz, und sie trägt sie kurz geschnitten. Aber diese Frisur passt perfekt zu ihrem schmalen Gesicht und den niedlichen Ohren. Sie trägt Ohrschmuck, zwei Ringe im rechten Ohrläppchen, einen im linken und noch einen in der linken Ohrmuschel. Vor einiger Zeit hat sie dir erzählt, dass ihre Ohrlöcher noch ganz neu sind und dich gefragt, ob du dich daran erinnern kannst, dass sie im Vorjahr noch keine Ohrlöcher hatte. Du konntest die Frage nicht beantworten, damals hattest du sie gar nicht wahrgenommen. Sie war Luft für dich gewesen, genau wie die anderen in der Klasse.
Sie schlägt das Mathebuch auf, um mit den Übungen anzufangen, aber du nimmst allen Mut zusammen und fragst sie, ob etwas nicht in Ordnung ist. Sie fixiert dich mit leicht verschrecktem Blick, ihre dunklen Augen scheinen deine Absicht ergründen zu wollen. Du wendest dich ab, ihre Nähe macht dich unsicher.
»Ach, nein, ich habe nur mit meinem Vater zu Mittag gegessen«, sagt sie. Im Krankenhaus hat sie dir unter anderem erzählt, dass ihre Eltern sich vor etwa einem Jahr getrennt haben. Du hättest nicht gedacht, dass das für sie ein Problem sein könnte, aber jetzt kannst du deutlich an ihrem Gesicht ablesen, dass es eines ist.
»Heute ist wohl der Tag der Väter. Meiner war auch zum Mittagessen da.«
Sie reißt sich zusammen, ihre Augen leuchten. »Ach, tatsächlich? Warum?«
»Weil Manlio, mein Trainer, zu Gast war. Das hat er sich nicht nehmen lassen. Für ihn ist Manlio ein Gott. Und dein Vater?«
»Ach, nichts. Hin und wieder erinnert er sich daran, dass er eine Tochter hat und lädt mich zum Mittagessen ein. Er hat mich gefragt, ob ich eine Woche mit ihm Ski fahren gehen will.«
»Ach? Wann denn?« Die Vorstellung, dass sie einige Tage von der Bildfläche verschwinden könnte, erschreckt dich. Aber sie wirkt ebenfalls nicht gerade begeistert.
»Nächste Woche. Im Trentino. Aber ich habe sowieso Nein gesagt.«
Du bist erleichtert und fragst: »Warum denn? Kannst du nicht Ski fahren?«
Sie senkt den Blick, ihre langen Wimpern scheinen ihre Wangen zu streifen. »Ich habe Training, ich kann keine ganze Woche weg.«
Klar, das Training. Das ist überhaupt das Seltsamste an dieser Situation. Nicht genug, dass ausgerechnet das Mädchen, das du damals vor der Schule so blöd angemacht hast, dir jetzt hilft. Sie ist auch noch eine Leistungssportlerin, Leichtathletin, ihre Disziplin ist der 100-Meter-Hürdenlauf. Hat sich das Schicksal da nicht einen schlechten Scherz erlaubt? Für dich gibt es Tausende von Hürden, kaum sichtbar, ein welliger Untergrund, ein kleines Hindernis genügt schon, eine niedrige Stufe, eine zu enge Tür, ein zu hoher Griff und schon bist du hilflos. Sie hingegen schafft sich selbst Hindernisse, ihr Weg ist mit Absicht voller Hürden und die Herausforderung ist, diese hinter sich zu lassen, sie zu überfliegen, als läge dahinter ein unbekanntes Terrain, ein unsichtbares gelobtes Land.
Deine Stimme sagt: »Eine Woche Ski fahren ist doch fast wie Training, du legst dich ja nicht einfach in die Sonne.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich habe zu viel zu tun.« Dann schlägt sie ihr Heft auf, um dir zu signalisieren, dass das
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