Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Zannoner
Vom Netzwerk:
rum, als sei er ein Actionheld und ich seine Liebste, die er in höchster Not retten muss. Ich sehe ihn an und sage: »Das ist das erste und das letzte Mal, das tue ich mir nicht noch einmal an.«
    Er lächelt und schweigt, es ist klar, dass er mich nicht ernst nimmt. Aber ich meine es ernst, sehr ernst. Ich würde es nicht ertragen, jeden Tag wie ein Kleinkind in meine Klasse getragen zu werden.
    An der obersten Stufe wartet schon meine Mutter, sie muss mit dem Rollstuhl auf der Schulter die Treppe hochgerast sein, um auf alle Fälle vor mir oben zu sein. Sie ist ein wenig außer Atem, kein Wunder, sie hat früher nie Sport gemacht, höchstens mal einen kleinen Spaziergang und auch das nur im Flachland. Der Rollstuhl erwartet mich, ein gutes Gefühl. Mit den Händen an den Rädern fühle ich mich frei und unabhängig und brause wie beflügelt den Gang entlang, aber ich fürchte, dass das der sympathischen Hausmeisterin nicht besonders gefallen wird, die gerade auf mich zukommt, um mich zu begrüßen. Sie ist eine kleine Frau mit dichten Locken, die ich wegen ihrer Kleinwüchsigkeit früher immer gehänselt habe. Aber selbst zu dieser Zwergin muss ich jetzt aufschauen. Zu meiner Überraschung ist sie jedoch richtig nett zu mir, ja, sie macht sogar Anstalten, mir über das Haar zu streichen. Da ich ihr früher aus purer Bosheit immer eine Kopfnuss gegeben habe, fürchte ich jetzt, sie könnte den Spieß umdrehen, also drehe ich den Kopf weg und sage: »Nein, Rina! Lass das!«
    »Leo, was redest du denn da?«
    Aber man sieht deutlich, dass sie ein bisschen enttäuscht ist, sie hätte mir bestimmt gerne eine Kopfnuss verpasst. Trotzdem bietet sie ihre Hilfe an: »Ich begleite dich.« Ich widerspreche nicht und mache gute Miene zum bösen Spiel, obwohl ich den Weg zu meinem Klassenraum nur zu gut kenne. Aber so ist nun mal die Regel bei Unpünktlichkeit. Rina klopft an die Tür des Klassenraums der 10c, dann macht sie sie einen Spaltbreit auf, um der Lehrerin Bescheid zu geben. Ist das alles vielleicht ein abgekartetes Spiel? Auch wenn alle so tun, als sei ich ganz zufällig vorbeigekommen. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommt die Lehrerin auf mich zu und ruft: »Leo! Ich freue mich so, dich wiederzusehen!«
    Sie drückt mir die Hand und ich sage: »Guten Tag.« Sie ist ganz rot im Gesicht, ich habe gar nicht gewusst, dass Lehrer überhaupt erröten können. Sie bittet die Hausmeisterin um Hilfe, für den Rollstuhl müssen beide Türflügel geöffnet werden, hastig fummeln sie an dem Schloss und an diversen Häkchen herum. Die Stille jenseits der Tür kommt mir verdächtig vor. Da stimmt etwas nicht. Ich vermisse das übliche Freudengeschrei, das sonst zu hören ist, sobald ein Lehrer den Raum verlässt. Endlich ist es geschafft, die Tür geht auf und ich habe meinen Auftritt. Wie ein König. Die Lehrerin verkündet lautstark: »Seht mal, wer da ist!«
    Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber auf keinen Fall habe ich damit gerechnet, dass sich meine Klassenkameraden mir zu Ehren erheben würden. Stühle fallen um, Tische werden beiseitegeschoben, als wären sie auf der Flucht. Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass sie meinen Namen rufen würden, ihre Begeisterung überrascht mich. Sie wussten natürlich, dass ich kommen würde, aber ihre Freude wirkt spontan und ist so rührend, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Meine Mitschüler umarmen mich, einige weinen sogar, nicht die Spur von Beklemmung oder gar Mitleid. Der eine oder andere raunt mir zu: »Wir haben dich vermisst!«
    Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, ich spüre die Wärme der vielen Körper um mich herum und über mir. Zum ersten Mal wird mir die Bedeutung des Satzes »Ich mag dich« bewusst. Es sind diese Worte, diese Gesten, diese fuchtelnden Hände, diese strahlenden Augen, diese Seufzer und diese pochenden Herzen, die schneller schlagen, ihre und meines, alle gemeinsam, alle im gleichen Takt.
    Nachdem die Begrüßungszeremonie beendet ist, können einige ihre Hände immer noch nicht von meiner Schulter, meinem Arm oder vom Rollstuhl lösen, sie wollen mir einfach nur nah sein, mir zeigen, dass sie für mich da sind. Sie reden weiter auf mich ein, machen Witze, und irgendwann ist meine Scheu verflogen, ich mache einfach mit, wer weiß, was ich alles erzählt habe, ich kann mich später an kein Wort mehr erinnern. Ich sehe nur die glänzenden Augen meiner Klassenkameraden, die aufgeregten Gesichter, die mir so strahlend

Weitere Kostenlose Bücher