Ausgewechselt
hell vorkommen wie Sterne, und mir wird klar, dass ich es ohne dieses Leuchten nicht mehr aushalten würde. So soll es bleiben, für immer.
Aber Viola hatte bemerkt, wie angespannt Leo anfangs war, sein unwilliges Gesicht, als müsste er etwas tun, wozu er keine Lust hatte. Ihr fiel wieder ein, was Leo einige Tage zuvor zu ihr gesagt hatte: »Mir wird ganz anders, wenn ich daran denke, dass ich bald wieder unter so vielen Leuten sein muss.«
»Was meinst du damit?«
Er hatte schrill aufgelacht, auch wenn seine Worte gar nicht zum Lachen waren: »Alle sagen, dass ich wieder ins Leben zurückmuss, dass ich mich nicht ewig verkriechen kann wie ein Bär in seiner Höhle. Es ist schon paradox: Im Krankenhaus habe ich mir so sehr gewünscht endlich rauszukommen, es kam mir vor wie ein Käfig voller Narren. Jetzt, wo ich draußen bin, ist es genau umgekehrt. Als wäre ich im falschen Film.«
Viola hatte geantwortet: »Weißt du, wovor meine Mutter am meisten Angst hat? Dass ich Drogen nehmen könnte.« Leo hatte sie erstaunt angesehen. »Sie sagt, Leistungssport verführt dazu, alle nehmen was. Das denkt sie aber nur, weil sie zu Hause selbst einen Schrank voller Pillen hat: Ohne Pillen schläft sie nicht, isst sie nicht, geht sie nicht aufs Klo. Sie ist richtig abhängig davon, und alle anderen sind für sie Monster, die sie hassen. Sie lebt in einer Scheinwelt. Seit mein Vater sie verlassen hat, sind alle Männer auf der ganzen Welt Schweine, und dass sie nicht arbeitet, liegt daran, dass es keine Arbeit gibt. Sie klebt regelrecht an diesem Bildschirm, der sie noch mehr betäubt als ihre Pillen, sie hat jeden Kontakt zu ihrer Umwelt abgebrochen, alle Freunde verschreckt und geht immer mehr vor die Hunde. Niemand kann ihr helfen, nicht einmal ich. Wenn du dich isolierst und Gift und Galle gegen alle und alles spuckst, lebst du in einer virtuellen Realität voller zwanghafter Obsessionen. Dir geht es schlecht, und alles was du tust, macht die Situation nicht besser, sondern nur noch schlimmer.«
Leos durchdringender Blick hatte ihr Angst gemacht, vielleicht hätte sie ihm das alles nicht erzählen sollen. Aber er hatte nur lapidar gemeint: »Stimmt!«, und sie hatte begriffen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Denn mit diesem Wort hatte Leo ihr gezeigt, dass er tatsächlich der gleichen Meinung war. Sonst hätte er mit längeren Hohn- und Spotttiraden reagiert.
Als sie ihn ins Klassenzimmer rollen sah, war Viola instinktiv aufgesprungen. Doch dann war ihr bewusst geworden, dass auch alle anderen so reagierten, als wäre Leo ein Magnet, von dem eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausging. Viola hatte es einen Stich versetzt, offensichtlich war sie nur eine von vielen, es kam ihr vor, als hätte Leo sie gar nicht wahrgenommen. Die Lehrerin stand etwas abseits und wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht. Dann gab es die Willkommenstorte und die Überraschung, die Viola Leo gegenüber mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt hatte. Selbst als er ihr anvertraut hatte, dass er eisern sparte, um sich seinen Wunschtraum zu erfüllen: einen Laptop.
Schließlich war Gisella gegangen, allerdings nicht ohne alle wissen zu lassen, dass es sie große Überwindung kostete, ihren Sohn alleine zu lassen: »Ich gehe jetzt … Also ich gehe dann jetzt, wir sehen uns später.«
Leo war zu seinem alten Platz gerollt und als er an Viola vorbeikam, hatte er sie angelächelt. »Hey, du.« Diese schlichte Geste hatte genügt, das Eis zu brechen und ihr Herz zu öffnen.
Am Ende des Unterrichts war sein Begleiter gekommen, um ihn abzuholen und die Treppe hinunterzutragen. Doch Leo war bereits unten. Zwei Mitschüler hatten die Arme zu einer Sitzfläche verkreuzt und er hatte sich an ihren Schultern festgehalten. Ein paar Schüler aus anderen Klassen, die ihnen auf der Treppe entgegenkamen, hatten genervt reagiert: »Könnt ihr eure Spielchen nicht woanders machen?«
Aber Leo konnte in dem Getümmel nichts passieren. Seine Klassenkameraden bildeten eine Art Schutzwall um ihn und geleiteten ihn sicher die Treppe hinunter. Wie eine Eskorte.
»Sieh dir diese Idioten an, die blockieren die ganze Treppe«, meckerte ein Typ aus dem Abiturjahrgang und kam bedrohlich näher, »wenn ihr diesen Schwachsinn noch mal macht, dann werde ich … « Erst jetzt bemerkte er den Rollstuhl, änderte spontan seine Meinung und seinen Ton und fuhr fort: »… euch helfen!« Daraufhin brandete Jubel auf, der Abiturient reckte den Arm zur Seite und
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