Ausgeweidet (German Edition)
Junger Mann, ich wünschte, ich hätte es getan, aber es steht mir nicht zu, über einen anderen Menschen in dieser Form zu richten. Und ja, auch wenn Sie offensichtlich keinen Durchsuchungsbefehl oder Ähnliches haben, können Sie einen Blick auf meine Waffen werfen.« Sie erhebt sich aus ihrem Sessel und bittet ihre Gäste, ihr in den Keller zu folgen. Ein Raum ist ganz der Jägerei gewidmet, mit Geweihen geschmückt und in den Regalen alles untergebracht, was ein Jäger braucht. Im hinteren Teil steht ein großer Stahlschrank, in dem drei Gewehre aufbewahrt sind. Sie holt aus ihrer Hosentasche die Schlüssel, die mit einer kleinen Kordel an ihrem Gürtel befestigt sind.
»Tragen Sie die immer bei sich?«, fragt Maria erstaunt.
Die alte Dame lächelt. »Ja. Gewehre und Munition müssen immer unter Verschluss sein, und auch der Schlüssel sollte an einem sicheren Ort verwahrt werden. Aber das wissen Sie sicherlich.«
Nachdem Erika Wagner die schwere Stahltür geöffnet hat, reicht sie Clemens das erste Gewehr. »Mit diesem hier habe ich gestern geschossen. Ich erwähne es nicht gern, aber ich war nicht erfolgreich.« Clemens betrachtet die Gewehre eingehend und bemerkt, dass alle gereinigt sind. Auf seine Nachfrage erklärt sie: »Ich mache das immer sofort. Eine alte Angewohnheit. Fernsehen, ohne etwas dabei zu tun, kann ich nicht. Entweder poliere ich Silber, putze Schuhe oder reinige meine Gewehre.«
»Mit wem waren Sie gestern auf der Jagd?«, meldet sich Maria zu Wort.
»Mit einem alten Freund, Freiherr von Clausen. Wir machen das in größeren Abständen regelmäßig, etwa dreimal im Jahr. Ich nehme nicht an, dass Sie ihn kennen?«
»Wer war noch dabei?«
»Zwei weitere Freunde von ihm, die ich auch schon seit Jahren kenne, ebenfalls ältere Herren. Herr von Clausen hat seine Jagd im Sauerland, lebt aber in Düsseldorf. Sie werden ihn bestimmt aufsuchen wollen, oder?«
Auch wenn Clemens für eine ballistische Untersuchung eigentlich eine richterliche Anordnung bräuchte, fragt er dennoch, ob er für kurze Zeit die Gewehre mitnehmen kann. Frau Wagner ist nicht erfreut, willigt aber ein. »Ich hätte die Waffen gern wieder in tadellosem Zustand zurück. Ist das in Ihrer Behörde möglich?« Clemens und Maria nicken gleichzeitig.
Nachdem sie wieder am Kamin sitzen, neben sich die eingepackten Gewehre, dreht sich die Vernehmung um das Alibi von Frau Wagner für den Freitagnachmittag. Sie berichtet knapp: »Um halb vier habe ich beim Italiener vorbeigeschaut, das Essen bestellt, dann einen ausgiebigen Spaziergang im Grafenberger Wald gemacht, um neunzehn Uhr war ich wieder zu Hause, und um halb acht kamen meine Freundinnen. Um zwanzig Uhr wurde das Essen geliefert.«
»Wo haben Sie das Essen bestellt?«
»In der Trattoria Baccala auf der Heinrichstraße. Sehr gute Küche. Gehen Sie dort mal essen, Sie werden begeistert sein.«
»Sind Sie im Wald jemandem begegnet?«
»Meine Liebe, bei dem scheußlichen Wetter? Nein, da war niemand.«
Ob sie immer so lange spazieren gehe, fragt Clemens, und Erika Wagner räumt ein, dass sie diesmal die größere Runde eingeschlagen habe, was eigentlich nicht geplant war, und dann habe sie noch vor dem herannahenden Unwetter flüchten müssen. Sie sei aber rechtzeitig zu Hause angekommen.
Auf dem Weg zur Haustür dreht sich Clemens noch einmal um: »Frau Wagner, gestatten Sie mir eine letzte Frage. Sie erwähnten Frau Hartmanns Bruder Sebastian. Wohnt der auch in Düsseldorf?«
»Das wissen Sie nicht? Nun, Sebastian ist nach dem Studium in den USA geblieben und kommt nur selten zu Besuch.«
»Was macht er denn beruflich?«, fragt Maria.
»Er ist Ingenieur und wird in der ganzen Welt eingesetzt.«
»Und wie ist das Verhältnis zwischen den Geschwistern?«
»Das sollten Sie vielleicht Frau Hartmann selbst fragen. Meiner Meinung nach verstehen die beiden sich sehr gut. Frau Hartmann hängt an ihrem älteren Bruder.«
»Haben die beiden viel Kontakt?«
Erika Wagner bemüht sich um Gelassenheit, aber man merkt ihr deutlich an, dass sie nichts mehr sagen möchte. »Das ist nicht nur eine Frage, Herr Hauptkommissar, sondern mehrere. Nochmals: Die beiden Geschwister hängen seit dem Tod der Eltern sehr aneinander. Und glauben Sie mir, Sebastian hat mit dem Mord an Herrn Briest nichts zu tun. Oder glauben Sie etwa, er hat sich heimlich nach Deutschland geschlichen, sich eine Waffe besorgt und im Wald herumgeschossen? Da wäre es nun wirklich wahrscheinlicher, dass ich
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