Ausgeweidet (German Edition)
Minuten kommt er zurück.
»Ich habe es befürchtet. Die Bänder überspielen sich nach nur achtundvierzig Stunden.«
»Dann hätten uns die Aufnahmen zu einem früheren Zeitpunkt auch nicht weitergebracht.«
»Sehr wahrscheinlich, aber mir geht es ums Prinzip. Wie kann man nur so dämlich sein und die Kameras übersehen?«
»War sonst noch was?«
»Ja. Hendrik hat Sebastian Hartmann erreicht. Der ist seit Wochen in Brasilien und hat ein überzeugendes Alibi.«
Clemens zündet sich eine Zigarette an und lässt den Rauch langsam aufsteigen. Sie sprechen noch eine Weile über den Fall, kommen aber nicht im Geringsten weiter. Es bleibt ihnen also nicht erspart, weitere Befragungen im Umfeld von Sieglinde Frank, Lamberty und Schneider durchführen zu lassen.
Als sie das Restaurant verlassen, weht ihnen ein kühler Wind entgegen. Clemens klappt seinen Mantelkragen hoch, verabschiedet sich von Maria, deren Taxi gerade angekommen ist, und geht mit schnellen Schritten Richtung Hafen. Der Wind sticht auf seinen Wangen, und er ist froh, als er endlich sein Appartement erreicht. Ein Blick auf seine Armbanduhr macht seinen Entschluss zunichte, noch bei seiner Schwester in Bayern anzurufen, bei der die Eltern zu Besuch sind. Eine SMS zu schreiben, kommt nicht infrage, nachdem er sich fast zwei Wochen nicht gemeldet hat. Clemens öffnet seinen Kühlschrank und greift nach einer Flasche Grauburgunder, die er geschickt öffnet. Mit einem Glas Wein macht er es sich auf seiner Mies van der Rohe-Liege bequem und nimmt sich nochmals die Gerichtsakten vor. Nach anderthalb Stunden fallen ihm die Augen zu. Bevor er den Entschluss fassen kann, ins Bett zu gehen, ist er schon eingeschlafen.
15.
Dienstag früher Morgen Hafen. In seinem Büdchen bestellt Clemens sich ein großes Glas Wasser und einen Espresso mit Zitrone, denn das letzte Glas Wein gestern Abend verlangt nach Flüssigkeit und der unruhige Schlaf nach naturbelassenen Muntermachern. Er fühlt sich gerädert und verspannt, da er erst tief in der Nacht den Weg von der Liege ins Bett gefunden hat. Rasch nimmt er alle Tageszeitungen aus dem Regal, einschließlich der Boulevardblätter, und sucht nach der Berichterstattung über den Toten im Grafenberger Wald. Der Aufmacher im Express lässt ihn nach Luft schnappen: «Bestialischer Mord im Grafenberger Wald. Jacques Briest abgeschlachtet und entmannt«. Auch die Titelstory in der Bildzeitung ist ähnlich reißerisch: »Düsseldorf hat einen neuen Schlächter. Jacques Briest teuflisch hingerichtet«. In beiden Artikeln werden Details genannt, die mit Sicherheit nicht in der Pressekonferenz zur Sprache gekommen sind.
Der Hauptkommissar ist entsetzt, fährt sich nervös durch seine Haare und überfliegt die Berichterstattung in den regionalen Tageszeitungen. Die geben kurz das wieder, was auf der Pressekonferenz erläutert wurde, und flüchten sich aus Mangel an Informationen in einen umfassenden Rückblick über die Geschehnisse während der Gerichtsverhandlung. In einer Regionalzeitung wird sogar über Sieglinde Franks Auftritt bei Gericht berichtet. Bebildert ist der Artikel mit einem Foto, das Clemens und Maria im Gespräch mit einer Person zeigt, deren Gesicht verpixelt ist. Für Clemens ist Sieglinde Frank im Hof ihres Restaurants deutlich zu erkennen.
»Das kann doch nicht wahr sein«, ruft er laut und haut mit der Faust auf die Platte des Stehtischs. Der Büdchenbesitzer, ein kleiner, kugelrunder Mitfünfziger, der von allen nur Olli genannt wird, schaut ihn verwundert an. Clemens winkt entschuldigend zu ihm herüber, bezahlt und rennt mit den Zeitungen in der Hand zum Polizeipräsidium. Hier wird er von dem stets gut gelaunten Pförtner begrüßt, der ihm mit einer Postkarte zuwedelt. Clemens steckt sie ein, läuft die breite Treppe in den zweiten Stock hinauf und betritt außer Atem das Büro von Otto Kreutz. Der telefoniert lautstark mit Pia Cremer. Clemens braucht ihm die Zeitungen gar nicht auf den Schreibtisch zu legen, dort befindet sich bereits eine beträchtliche Auswahl. Nervös geht Clemens auf und ab und wendet sich schließlich zum Bürofenster. Von dort schaut er in den Hof des Polizeipräsidiums, der für die Einsatzfahrzeuge der Polizei reserviert ist. Er traut seinen Augen nicht. Mit Schwung biegt ein Taxi auf den Hof, das der Pförtner nicht aufzuhalten vermag. Die Fahrerin, eine Schwarzafrikanerin, steigt aus und geht um das Fahrzeug herum. Der Pförtner gestikuliert wild, ohne Erfolg. Die Frau
Weitere Kostenlose Bücher