Ausgeweidet (German Edition)
Besprechungsraum versammelt. Die Präsentationswand ist bereits zu einem farbenfrohen Flickenteppich geworden. Neben den Tatortfotos sind bunte Zettel befestigt, auf denen zahlreiche Hinweise, Fakten und Zusammenhänge notiert sind. Nachdem Pia Cremer die Pinnwand eingehend studiert hat, dreht sie sich zu den Kollegen um, schaut ungeduldig auf ihre Uhr und blickt dann zu Maria hinüber, die entschuldigend mit den Schultern zuckt. Nach wenigen Minuten wird die Tür aufgestoßen, und Clemens von Bühlow betritt eilig den Raum. Er grüßt kurz, geht direkt auf Flemming zu und fragt ihn nach Langhans.
»Den habe ich noch nicht erreicht, aber eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.«
Die Frage an den Oberkommissar kommt unwirsch über seine Lippen: »Die Überwachungskameras sind euch wohl nicht aufgefallen?«
»Was für Überwachungskameras?«, fragt Christian auf der Heide irritiert nach.
»Na, die bei dem Haus von Otto Langhans.«
Der Versuch, sich zurückzuhalten, gelingt nicht. »Wie kann man die nur übersehen! Ihr seid doch keine Anfänger, oder fängt bei euch eine Hausdurchsuchung erst hinter geschlossener Tür an?«
Christian auf der Heide bekommt einen knallroten Kopf. Clemens’ Blick lässt ihn noch einen Ton dunkler werden, was jenen amüsiert und dazu beiträgt, dass er sich etwas entspannt. Mit der Bemerkung »Ich hole mir eben noch einen Kaffee, dann können wir loslegen«, verlässt er den Besprechungsraum. Vor dem Kaffeeautomaten atmet er einmal tief durch, dann kehrt er sichtlich ruhiger zurück.
Pia Cremer wendet sich an Clemens. »Ich habe mit Schoeller gesprochen. Der Ballistiker untersucht die Waffen erst einmal mit den herkömmlichen Methoden. Wenn er dann zu der Einschätzung kommt, dass die große Untersuchung uns weiterhilft, werde ich das genehmigen, falls sich der Verdacht gegen Frau Wagner bis dahin erhärtet haben sollte.«
Clemens will die Oberstaatsanwältin nicht brüskieren und erklärt sich damit einverstanden. ›Schoeller wird dranbleiben, und wenn er nur den Lapsus mit den Videokameras wiedergutmachen will‹, ist er überzeugt. Maria referiert nun kurz, was das Gespräch mit Sieglinde Frank ergeben hat, und Clemens informiert die Kollegen über die Befragung von Erika Wagner.
»Hendrik, kannst du bitte Sebastian Hartmann, den Bruder von Senta, aufspüren? Er soll in den USA leben und geschäftlich viel auf Reisen sein. Würde mich interessieren, wo er sich zur fraglichen Zeit aufgehalten hat.« Clemens schaut kurz in sein Notizbuch. »Und morgen besuchen Maria und ich diesen Freiherrn von Clausen, den Jagdfreund von Frau Wagner. So, von unserer Seite war es das. Was gibt es bei euch Neues?«
Hendrik Flemming übernimmt. Er hat Kontakt zu den Kollegen in Brüssel aufgenommen. Seine Vermutungen und die Angaben von Senta Hartmann über ihren Ex-Schwiegervater sind bestätigt. Die Gerichtsakte aus Brüssel hat zudem Auskunft darüber gegeben, dass Jacques von seinem Vater über Jahre sexuell missbraucht wurde.
In der entstehenden Pause heftet Sonja Melchior eine weitere stattliche Anzahl neu beschrifteter Karteikarten an die Pinnwand. Dann ist Florian an der Reihe und schildert sein Telefonat mit dem Pfleger aus dem St.-Vinzenz-Krankenhaus . Der hat Lamberty um sechzehn Uhr dreißig mit seinem SAAB vom Parkplatz in Richtung Innenstadt wegfahren sehen. Clemens’ dunkle Augen blitzen für Sekunden auf.
Als Nächster hebt Christian auf der Heide die Hand. Seine Gesichtsfarbe hat sich wieder normalisiert, aber er wirkt immer noch betreten. Clemens nickt ihm aufmunternd zu. Maria registriert einmal mehr, dass er eine erstaunliche Begabung hat: Er versteht es, mit kleinen Gesten die jungen Kollegen zu motivieren. Umgekehrt braucht er nur den Ton etwas schärfer klingen zu lassen, dann erreicht er mehr an Aufmerksamkeit und Einsicht als manch ein Kollege, der laut wird.
Sichtlich engagiert berichtet Christian auf der Heide über die Befragung des anonymen E-Mail-Verfassers Michael Schneider. Der habe ihnen noch völlig verschlafen die Tür geöffnet, und zwar mit einem Restalkoholgehalt, der anfangs ein Gespräch kaum möglich gemacht habe. Nach drei Tassen Kaffee und einer halben Flasche Wasser sei es langsam gegangen. Schneider sei ziemlich fahrig gewesen, sie hätten immer wieder nachfragen müssen, weil er sich nur schwer habe konzentrieren können. Seine Tochter sei vor fünf Jahren im Alter von neunzehn Jahren vergewaltigt worden, der Täter bis heute nicht
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