Ausländer
er erzählte, wurde er immer aufgelöster. Herr Kaltenbach legte ihm väterlich einen Arm um die Schulter. »Du kannst ruhig weinen. Wir meinen es gut mit dir.«
Sogar Frau Kaltenbach wirkte berührt. Sie tätschelte ihm unbeholfen das Knie. »Armer Junge«, sagte sie, ehe sie sich an ihren Mann wandte. »Für einen Polacken spricht er gut Deutsch. Fast ohne jeden Akzent.«
So aufgewühlt er auch war, ihre Verachtung spürte Piotr. Er bemerkte, wie die beiden einander kaum wahrnehmbar zunickten.
»Also, willst du mit uns nach Berlin kommen?«, fragte Professor Kaltenbach.
In Piotrs Kopf überschlugen sich die Fragen. Zu viele Fragen, die er, das war ihm klar, nicht würde stellen können. Zum Beispiel, was passiert mit mir, wenn ich nicht mitwill? Was passiert, wenn diese Frau Kaltenbach beschließt, dass sie mich nicht will? Wie sind die Töchter der beiden? Boshaft und abscheulich?
In dem Wissen, dass er keine echte Wahl hatte, sagte Piotr schniefend ja.
Piotrs Tasche mit seinen Habseligkeiten war so mitleiderregend klein, dass Frau Kaltenbach gar nicht glauben konnte, dass das alles war, was er besaß. »Ich habe von zu Hause nichts mitgenommen. Die Soldaten wollten mich nicht mehr ins Haus lassen«, erklärte Piotr auf ihre Nachfrage. »In dem Sammellager haben sie mir ein paar Kleider gegeben. Nichts davon passte richtig.«
Im Zug zurück nach Berlin erzählte Professor Kaltenbach, was das für eine wunderbare Stadt sei. »Wir werden dich in den Zoo mitnehmen, und in den Zirkus, und in die Antikensammlung …«
Piotr berichtete ihm empört, dass in Warschau alle Museen geschlossen worden seien. Das gefiel dem Professor nicht. »Es ist nicht an uns, die Politik der Regierung infrage zu stellen. Ich bin sicher, dass man nur zum Besten des Reichs gehandelt hat.«
Nach wenig mehr als zwei Stunden hatten sie die Außenbezirke der Hauptstadt erreicht, gerade, als die Schatten in der Nachmittagssonne länger wurden. Zunächst sah man Reihe um Reihe kleiner Häuschen, alle mit eigenem kleinen Garten. Dann wurde die Bebauung dichter. Große, langgezogene Wohnblöcke, sechs oder sieben Stockwerke hoch, grenzten hinten an die breite Narbe, die die ins Zentrum führende Bahnstrecke bildete. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Eltern verspürte Piotr etwas Hoffnung. Vielleicht war die Familie nett? Vielleicht waren die Mädchen genauso freundlich wie ihr Vater? Vielleicht würde sich alles zum Guten wenden?
Sobald sie aus dem Bahnhofsgebäude traten, war er beeindruckt von der Pracht seiner neuen Heimatstadt. Hier hatte der Krieg keine Schäden angerichtet. Wie furchtbar sah dagegen Warschau aus.
Die Kaltenbachs hatten ihren Wagen in der Nähe des Bahnhofs geparkt. Es war ein vornehmer Mercedes-Benz. Herr Kaltenbach kündigte an, er werde auf dem Weg nach Hause mit ihnen an einigen Sehenswürdigkeiten vorbeifahren.
Kaltenbach betonte immer wieder mit Nachdruck, dass das Berlin der Kriegszeit nicht mehr der gleiche Ort war wie in den Dreißigerjahren. Einige der Statuen auf den Brücken und Boulevards waren zum Schutz vor Bombentreffern demontiert worden. Einige der Hauptstraßen hatte man mit Tarnnetzen überzogen, um feindlichen Flugzeugen die Orientierung und die Sicht auf mögliche Ziele zu erschweren. Aber die Stadt war trotzdem wunderschön. Die schmiedeeisernen Verzierungen an den Brücken, die aufwändig gestalteten Straßenlaternen, die kunstvollen Stuckaturen an den Eingängen zu Wohn- und Bürogebäuden – aus allem sprach selbstzufriedener Wohlstand.
Piotr hatte auch zuvor schon Großstädte gesehen. Aber die Weitläufigkeit und Pracht Berlins stellte Warschau und Lódź geradezu in den Schatten. Der Professor zeigte ihm den rosafarbenen Palast des Königlichen Zeughauses, das Gebäude der Antikensammlung, das Brandenburger Tor und, mit besonders großem Stolz, die goldglitzernden Kanonen und Engel an der Siegessäule. Obgleich zum Schutz von hochgetürmten Sandsäcken umgeben, war das Monument dennoch höchst beeindruckend.
Der Wagen passierte eine weitere breite Allee, als Herr Kaltenbach verkündete, dass man nun nach Hause fahre, wo die übrigen Familienmitglieder warteten. Vor einem großen Wohngebäude mit hohen, breiten Fenstern und einer Fassade aus Stein und Holz drosselte er das Tempo. Das Auto zwängte sich durch eine schmale Einfahrt in einen großzügigen Hof. Hier parkten einige Fahrzeuge, hauptsächlich der Marken Mercedes und BMW . Kaltenbach schritt voran zum Haupteingang, einem
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