Ausländer
Peter kauerte sich neben den Wagen und versuchte die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu lenken. »He! Ich habe Essen für dich!«, rief er auf Polnisch. Der Bursche blickte auf, ignorierte ihn aber. Da wurde Peter kühner. »Hallo, mein Freund«, sagte er lauter. »Ich möchte dir etwas zu essen geben.«
Ohne aufzublicken erwiderte der Junge: »Verzieh dich, Adolfki.«
Peter war überrascht und ein wenig gekränkt. Diesen Ausdruck hatte er nicht mehr gehört, seit er Polen verlassen hatte. Nach der deutschen Invasion hatte man ihn damit oft auf der Straße beschimpft. »Ich bin kein Adolfki!«, rief er zurück. »Sondern genauso polnisch wie du.«
Das ließ den Jungen aufhorchen. »Wenn sie mitkriegen, dass ich mit dir rede, werde ich geschlagen«, sagte er.
Peter duckte sich noch tiefer, um nicht gesehen zu werden. »Ich werfe das Brot zu dir rüber.«
»Danke«, sagte der Junge. »Manchmal kommen deutsche Jungen und sagen, sie geben uns Essen, und dann werfen sie uns Papiertüten mit Hundescheiße zu.«
»Ich komme wieder«, sagte Peter. »Halt nach mir Ausschau. Wie heißt du, und wann hört ihr auf zu arbeiten?«
»Ich bin Wladek«, sagte der Junge. »Um neun Uhr abends bringt man uns zurück ins Lager.« Seine Nervosität wuchs, er blickte sich ständig um. Zeit zu gehen.
Trotz seiner entsetzlichen Angst war es für Peter wie ein Zwang, immer wieder zu dem Trümmergrundstück zu gehen. Den ganzen Weg über quälte ihn ein Gedanke: Was wird nur Onkel Franz sagen, wenn man mich schnappt? Er empfand tiefe Dankbarkeit, dass die Kaltenbachs ihn vor dem Waisenhaus gerettet hatten, und wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Aber auf dem Rückweg von Gleisdreieck fühlte er sich jedes Mal ungeheuer erleichtert und mit sich selbst im Reinen. Er hatte eine gute Tat vollbracht. Es war ein schönes Gefühl.
Peter kam stets frühabends, und der Junge war immer da, am Rand des Trümmerfelds. Eines Tages sah er Wladek mit einem anderen Jugendlichen zusammenstehen. Sie winkten ihn heran.Peter war überrascht über ihre Courage, konnte seine Neugier aber nicht zügeln. Seit seinem Weggang aus Warschau hatte er mit niemandem mehr ein richtiges Gespräch auf Polnisch geführt. Es würde wunderbar sein, mit Menschen in der Sprache, mit der er aufgewachsen war, reden zu können und sich keine Gedanken über seinen Akzent machen zu müssen, der verriet, dass er Ausländer war.
Doch ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte der ältere Junge ihn gepackt und in eine Kellerruine geschleppt. Er hielt Peter eine Maurerkelle an die Kehle, deren Ränder im Licht der Straßenlaternen silbrig glänzten. Sie waren messerscharf geschliffen.
»Gib mir deine Lebensmittelkarte«, sagte der ältere Junge.
»Tu ihm nicht weh, Antos«, flehte Wladek. »Du hast versprochen, dass du ihm nicht wehtust.« Er klang genauso verängstigt wie Peter sich fühlte.
»Ich habe keine Lebensmittelkarte bei mir«, erwiderte Peter. Er hatte Todesangst. Würde dieser Junge ihm den Hals aufschlitzen?
»Dann eben Geld. Gib uns alles, was du hast.«
Peter trug ein paar Reichsmark bei sich. Er holte sie aus der Tasche.
»Papiere. Du musst doch Papiere haben.«
»Habe ich vergessen.«
Das war die Wahrheit. Peter hatte es so eilig gehabt, Wladek das Essen zu bringen, dass er seinen Ausweis vergessen hatte.
Die Kelle drückte scharf gegen die weiche Haut an seinem Hals.
»Durchsuch ihn«, sagte Antos zu Wladek.
Wladek durchstöberte Peters Taschen. Sein Gesicht warschamgerötet, und er konnte die Tränen kaum zurückhalten. »Es tut mir leid«, sagte er mit zitternder Stimme.
»Halt die Fresse!«, befahl Antos und verpasste Wladek eine Kopfnuss.
»Und jetzt, Adolfki«, sagte Antos, »erklär mir, warum ich dich nicht umbringen sollte.«
Peter geriet in Panik. Er überlegte, ob er schreien sollte. Aber bis die Wachen kommen würden, hätte Antos ihm längst die Kehle durchgeschnitten.
»Weil ich dir helfen kann, so wie ich Wladek geholfen habe«, sagte Peter.
Wladek zupfte an seinem Ärmel. »Wenn sie ihn hier unten finden, lassen sie uns alle umbringen.« Er hatte genauso viel Angst wie Peter.
»Für einen Adolfki sprichst du gut Polnisch«, sagte Antos. »Geh. Und zwar sofort. Und komm morgen wieder mit Essen, sonst tu ich deinem Freund hier weh.«
Als Peter die Treppen hinaufstieg, rief Antos ihm hinterher: »He, Adolfki! Genieß den Krieg, der Frieden wird fürchterlich.«
In der U-Bahn nach Hause zitterte Peter vor Angst und Wut. Wie konnte
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