Ausländer
erklärt, sie verabrede sich nur mit nordischen Jungen. Wahrscheinlich erinnerte sie sich nicht mal mehr an seinen Namen.
Peter sah Anna vor dem Stadion wieder, als die Vorführung beendet war. Einige HJ -Jungen ließen anzügliche Bemerkungen fallen. Peter gefiel die Art, wie sie über allem zu stehen schien – als wären die Burschen eine Schar Krähen, deren Gekrächze ihr nichts bedeutete.
Drei Tage später erklärte Deutschland den Vereinigten Staaten den Krieg. Professor Kaltenbach nahm die Nachricht mit einemzufriedenen Grinsen auf. »Diese Nation von Bastarden«, sagte er beim Abendessen voller Spott. »Eine Kultur, die der Welt den Jazz gebracht hat« – das Wort spuckte er geradezu heraus –, »ist dem Dritten Reich nicht gewachsen. Eines prophezeie ich euch: Wenn wir mit den Russen fertig sind, werden Yankees und Tommys um Frieden betteln.«
Herrn Kaltenbachs gute Stimmung hielt für den Rest des Monats an. Seine Zuversicht war ansteckend. Die deutsche Armee war die größte Streitmacht der Geschichte – niemand bezweifelte das. So blieben Peter und seine Schulkameraden überzeugt, dass der Krieg bald vorbei sein würde. Einige Jungen erklärten großspurig, wie enttäuscht sie seien, dass sie ihre soldatischen Fähigkeiten nicht unter Beweis stellen konnten.
Peter lächelte dazu nur, sagte aber nichts. Krieg spielen machte riesigen Spaß – alle Jungen der HJ spielten gern Krieg –, aber die Realität sah anders aus.
Um das zu wissen, brauchte man nur die versehrten Kriegsheimkehrer in den Straßen von Berlin anzusehen, denen Arme oder Beine fehlten, oder die langen Spalten mit den Namen der Gefallenen in der Zeitung zu lesen. Ja, die Wirklichkeit des Krieges sah anders aus.
Die dritte Dezemberwoche brachte heftige Schneefälle. In Wyszków wäre Peter bei solchem Wetter immer am liebsten im Bett geblieben. Zu dieser Jahreszeit war es jedes Mal eine Quälerei, die Tiere zu füttern, und es dauerte eine Ewigkeit, bis er den Weg zwischen Hof und Straße vom Schnee befreit hatte. Hier in der warmen kaltenbachschen Wohnung konnte er sich einfach, ohne an die Kehrseite denken zu müssen, daran erfreuen, wie der Schnee alles verzauberte.
An Heiligabend bestanden Traudl und Charlotte darauf, dass Peter mit ihnen und ein paar ihrer BDM -Freundinnen zum Weihnachtssingen ging. Elsbeth luden sie ebenfalls ein, doch sie lehnte ab. »Ich habe zu tun«, war alles, was sie als Entschuldigung vorbrachte.
Als sie während der frühabendlichen Verdunkelung durch den knirschenden Schnee stapften, leuchteten ihnen Kerzen in Marmeladengläsern den Weg. Es sah magisch aus. Ohne die Straßenbeleuchtung glänzten die Sterne am wolkenlosen Himmel hell und klar. Peter fühlte sich an den Winterhimmel auf dem Bauernhof erinnert.
Traudl und Charlotte ließen die Gelegenheit, während des Singens ihre Winterhilfe-Sammelbüchsen wie Tamburine zu schütteln, nicht ungenutzt vergehen. Es wurden traditionelle Weihnachtslieder gesungen, aber nicht nur solche. Eines der älteren Mädchen hatte eine neue Version von »Stille Nacht« vervielfältigt und mitgebracht; das Papier war noch feucht vom Hektographieren.
Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles ruht, einer wacht
Adolf Hitler für Deutschlands Geschick
Führt uns zu Größe, zu Ruhm und zum Glück …
Peter war froh, dass Segur nicht dabei war, denn der hätte mit Sicherheit angefangen zu lachen. Ein Blick in die ernsten Gesichter der anderen zeigte ihm, dass sie mit ganzer Seele hinter dieser speziellen Version des traditionellen Lieds standen. Urplötzlich fühlte er sich sehr einsam. Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Fleischer hatte recht. Erwürde unter diesen Menschen immer ein Außenseiter bleiben – ein Ausländer. Doch tief im Herzen wusste Peter, dass es richtig so war. Etwas in ihm konnte dieser bedingungslosen Verehrung, die man Hitler und den Nazis entgegenbrachte, nicht zustimmen. Und ebenso wenig konnte er sich mit diesem verstörend blinden Glauben an Hitler abfinden.
So etwas zu denken, während er unter Menschen war, die ihm das Gefühl vermittelt hatten, er sei endlich zu Hause – »zurückgeholt in die Volksgemeinschaft« –, empfand er zugleich als schrecklich treulos. Sie hatten ihm geholfen, die Trauer um seine toten Eltern zu überwinden. Seine Mutter und sein Vater hatten ihm das Gefühl mitgegeben, Deutschland sei immer der bessere Ort, Deutsche seien stets die besseren Menschen. Er wollte nur zu gern
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