Ausländer
abgeholt und in die Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße gebracht worden sei. Als er am folgenden Morgen nach Hause kam, sei sein ganzer Körper mit Blutergüssen bedeckt gewesen. Einige der Jungen sagten, das sei ihm recht geschehen und er habe noch Glück gehabt, dass er nicht in Sachsenhausen gelandet sei. Die meisten jedoch schwiegen. Danach gab es in der Schule keine öffentlichen Denunziationen mehr. Stattdessen trugen die Lehrer den Schülern auf, solche Schmähreden künftig vertraulich zu melden.
Von Sachsenhausen hatte Peter schon gehört. Es war in Berlin ein offenes Geheimnis. Mit dem der Hauptstadt nächstgelegenen Konzentrationslager wurde häufig gedroht, wenn sich Eltern bei den Behörden beschwerten, ihre Kinder müssten zu viel Zeit für die Erfüllung ihrer HJ -Pflichten aufwenden.
Peter erzählte Segur, dass er zur Luftwaffe gehen wolle. »Nur den Glanz, ohne das Elend«, sagte er lachend.
»Sofern du nicht abgeschossen wirst«, sagte Segur.
»Man hat immer einen Fallschirm dabei«, erwiderte Peter.
»Kurt hat erzählt, dass der Iwan unsere Piloten mitten in der Luft abschießt, wenn sie mit dem Fallschirm herabgleiten«, sagte Segur.
»Dann dürfen wir uns eben nicht abschießen lassen«, sagte Peter. Er war entschlossen, an seiner Idee festzuhalten. Auch Segur fand allmählich Gefallen daran.
»Wie steht es mit deinem Orientierungssinn?«, fragte sein Freund. »Piloten müssen gut rechnen können und alles über Treibstoffquoten und Bombenzuladung wissen.«
»Mit Zahlen hab ich’s nicht besonders«, erwiderte Peter.
»Ach, du musst nur gut mit einem Rechenschieber umgehen können.«
Peters Vater hatte kurz vor seinem Tod versucht ihm beizubringen, wie man einen Rechenschieber benutzte.
So trafen sich Segur und Peter in der folgenden Woche allabendlich nach der Schule in der Bücherei, um über mathematischen Lehrbüchern zu brüten. Eines Abends las Segur aufs Geratewohl eine Rechenaufgabe vor:
Ein Stuka ist beim Start mit zwölf Dutzend Bomben beladen, von denen jede 10 Kilogramm wiegt. Das Flugzeug steuert auf Warschau zu, das Zentrum des internationalen Judentums. Es bombardiert die Stadt. Beim Start, mit sämtlichen Bomben an Bord und einem Treibstofftank, der 1500 Kilogramm Benzin enthält, wiegt das Flugzeug 11 Tonnen. Bei seiner Rückkehr aus dem Einsatz sind noch 230 Kilogramm Treibstoff übrig. Wie hoch ist das Leergewicht des Flugzeugs?
Peter war ganz entgeistert. Er mochte es nicht, dass Segur so etwas über Polen vorlas.
Segur bemerkte den Blick auf Peters Gesicht. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich sehe in dir keinen Polacken. Für mich bist du einer von uns.«
Kapitel dreizehn
An einem stürmischen Herbstnachmittag marschierte Peters HJ -Schar zum nahe gelegenen Sportplatz. Ein Boxturnier stand auf dem Programm. Wer gegen wen antrat, war vorab ausgelost worden, und auf kein Duell war man gespannter als auf das zwischen Peter Bruck und Lothar Fleischer.
Fleischers Schulkameraden nannten ihn manchmal »westisch«, weil er aussah wie einer der »Typen« auf der Rassentafel im Klassenzimmer. Darauf waren die sechs Hauptkategorien germanischer Menschen abgebildet, neben der westischen die nordische , fälische , ostbaltische , dinarische und ostische »Rasse«. Fleischer war tatsächlich westisch. Dunkles Haar, dichte dunkle Augenbrauen, breite Stirn, ovales Gesicht. Fleischer sah sich selbst gern als jugendliche Ausgabe des amerikanischen Schauspielers Cary Grant. Aber das äußerte er nicht laut. Schließlich war Grant kein Deutscher. Aber eigentlich hätte Fleischer am liebsten nordisch ausgesehen – alle bewunderten sie die nordischen Jungen. Sie kamen dem arischen Ideal am nächsten. Und keiner wurde mehr beneidet als Peter Bruck. Wie kann man bloß so ein Glück haben? , dachte Fleischer. Noch dazu war Peter hochgewachsen, während Fleischer nur von durchschnittlicher Größe war. Aber heute würde er es ihm zeigen.
In der Tradition der Hitlerjugend fassten sich die Gruppenmitglieder im Zentrum des windumtosten Spielfelds an den Händen und bildeten so einen großen Kreis um die Boxer. Einerder älteren Jungen fungierte als Ringrichter. Es war ein langer Nachmittag, der nur durch ein paar grausame Fehlpaarungen aufgelockert wurde, bei denen besonders harte Jungs gegen besonders zarte und sensible antraten – jene also, die gewöhnlich im Chor oder in Trommel- und Trompetenkapellen Zuflucht vor den derberen HJ -Aktivitäten fanden.
Peter und Lothar
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