Ausländer
waren gegen Ende des Turniers an der Reihe, und als sie schließlich im schwindenden Nachmittagslicht gegeneinander antraten, kam Unruhe in die Menge. Peter hatte sich auf diesen Augenblick gefreut. In den zwei Wochen seit ihrem ersten Streit hatte ihn Fleischer immer wieder mit kleinen Sticheleien gepiesackt, entschlossen, Peter niemals vergessen zu lassen, dass er Pole war.
Peter war gut acht Zentimeter größer als Fleischer, aber Fleischer hatte mehr Masse. Er war fast ein Jahr älter als Peter, stämmig und gut entwickelt für sein Alter.
Fleischer machte einen guten Anfang mit ein paar harten Schlägen, die Peter jedoch mühelos wegsteckte. Er hatte sein Leben lang auf dem Hof gearbeitet – Futterkarren für die Kühe gezogen, Heuballen gestemmt, mit der Sense gemäht. Das machte ihn zu einem Respekt einflößenden Gegner. Fleischer platzierte noch ein oder zwei weitere Schläge auf Peters rechter Wange, doch das spornte diesen nur an, noch verbissener zu kämpfen.
Der Kreis der Jungen spürte seine Überlegenheit und johlte wie verrückt. Als sich die beiden ineinander verklammerten, nahm Peter Fleischer in den Schwitzkasten und schlug ihm seitlich gegen den Kopf, bis Blut über seine Lederhandschuhe rann und man die Kontrahenten trennte. Fleischer sackte zu Boden, aber Peter konnte nicht widerstehen und verpasste ihm nochrasch einen Tritt, als der Ringrichter ihm gerade den Rücken zuwandte. Das hatte Fleischer jetzt von seinen Beleidigungen und Verunglimpfungen.
Unter dem Jubel der HJ -Schar wurde Peter zum Sieger erklärt. Das freute ihn unbändig. Später jedoch erschrak er fast, als er merkte, dass es ihm solches Vergnügen bereiten konnte, einen anderen Jungen dermaßen zu verprügeln. Er fragte sich, ob so vielleicht Soldaten nach siegreichen Schlachten empfanden.
Nach dem Kampf entfernte sich Fleischer von der Gruppe und tupfte seine blutige Nase ab. Aber Peter hörte, wie er mit seinen Kumpanen wieder einmal über Polen lästerte.
»Beim U-Bahnhof Gleisdreieck ist ’ne ganze Arbeitskolonne von denen dabei, ein Trümmergrundstück aufzuräumen«, höhnte er. Ein paar Gebäude in der Nähe der U-Bahn-Station waren bei einem Luftangriff der Royal Air Force kurz vor Peters Ankunft in Berlin zerstört worden. »Man sagt, in der Gegend sind alle Katzen verschwunden, weil die dreckigen Polacken sie fangen, ihnen das Fell abziehen und sie auffressen. Und nachts fallen sie über alte Omas her und murksen sie ab, um an ihre Lebensmittelkarten zu kommen.«
Wenn an diesem Geschwätz von Fleischer etwas wahr war, dann die Tatsache, dass die polnischen Zwangsarbeiter am Verhungern waren. Peter versuchte den Impuls zu unterdrücken, hinzugehen und zu sehen, ob er ihnen helfen konnte. Er wusste, dass er damit alles infrage gestellt hätte, was man ihm beigebracht hatte. Er konnte sich die Enttäuschung seiner neuen Familie vorstellen, falls man ihn erwischte. Und außerdem würde es ihn in schreckliche Schwierigkeiten bringen.
Nacht für Nacht quälten ihn diese Gedanken. Er erinnerte sich an einen Vorfall in der Schule, als er zehn Jahre alt gewesenwar und zwei ältere Jungen einen seiner Freunde verprügelt hatten. Peter hatte gewusst, dass er ihm hätte beispringen müssen, doch er hatte zu viel Angst gehabt. Noch Monate später hatte er sich deswegen elend gefühlt. Mit jedem Tag, der verging, wurde dieses vertraute Schuldgefühl stärker. Er war einer derjenigen in Deutschlands »neuem Europa«, die Glück gehabt hatten, sagte er sich. Warum also nicht einigen weniger vom Glück begünstigten Menschen helfen? Schließlich fasste er einen Entschluss. Er würde hingehen.
Gleisdreieck war eine halbe Stunde Fußweg vom Wittenbergplatz entfernt, und als Peter eines frühen Abends dort eintraf, war es kalt und es fiel feiner Sprühregen. Auf dem Trümmergrundstück wurde noch gearbeitet. Gruppen ausgemergelter Männer und Jungen in schmutzigen Lumpen schaufelten Schutt in Schubkarren. Sie waren durchnässt, einige zitterten vor Kälte. Zwei bewaffnete Soldaten beaufsichtigten sie, und ein deutscher Vorarbeiter brüllte sie voller Verachtung an.
Abseits von den Soldaten, auf der anderen Seite des Grundstücks, sah Peter einen jungen Burschen allein arbeiten. Er entfernte gerade mit einem Meißel eine geborstene Fensterscheibe. Obwohl kaum älter als Peter, sah er schrecklich erschöpft aus.
In einer Bäckerei in der Nähe kaufte Peter Brot und Käse. Am Rand des Trümmergrundstücks war ein Auto geparkt.
Weitere Kostenlose Bücher