Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
Vom Netzwerk:
darunter nicht wenige Kinder. Manche von ihnen waren verkohlt und entstellt. Sie sahen aus wie groteske, zerbrechliche Statuen. Bei anderen hatte der Tod keine Spuren hinterlassen. Sie umfing jene schreckliche Stille, der er schon im Januar begegnet war. Gelegentlich gellten Schreie eines Verwandten oder Elternteils, der in der entsetzlichen Parade einen geliebten Menschen entdeckt hatte. Peter fand es unerträglich, dass bei diesen Angriffen Kinder umkamen. Unbändige Wut auf die Briten, die diese Gräueltat begangen hatten, packte ihn.
    Im Unterschied zu den nicht enden wollenden HJ -Übungen und Winterhilfesammlungen, wofür er schon lange die Geduld verloren hatte, erschien ihm das, was er hier tat – den Opfern des Luftangriffs beizustehen –, als sinnvolle Arbeit. Er half einer örtlichen HJ -Schar, Schubkarren mit den Trümmern eines eingestürzten Hauses zu füllen, bis er vor Hunger und Durst fast ohnmächtig wurde.
    »Achtung!«, rief ein HJ -Scharführer plötzlich und hielt die Hand in die Höhe, um Schweigen zu gebieten. »Da drunter ist jemand.«
    »Kannst du mich hören?«, rief er in den Schutthaufen hinab. Dann schaufelte er ein paar weitere Trümmer beiseite und zog eine blasse Hand ans Licht. »Er ist kalt«, stellte er ungerührt fest. »Holen wir ihn trotzdem heraus und legen ihn zu den anderen.«
    Peter packte mit an. Der tote Junge, der zum Vorschein kam,nachdem sie die Steine weggeräumt hatten, erschien ihm so bekannt, dass es ihm einen Stich versetzte. Sein Kopf war geschoren und er war schrecklich dünn, das Gesicht eingefallen, die zerschlissene Jacke aufgerissen, sodass man unter der ungesund bleichen Haut die Rippen sehen konnte. Es war Wladek.
    »Bloß ein lausiger Ostarbeiter«, sagte der Scharführer, als er auf Wladeks Jacke das blaue Dreieck mit dem P entdeckt hatte, das ihn als polnischen Arbeiter auswies. »Kümmert euch nicht um den. Wir suchen weiter nach unseren eigenen Leuten. Er ist wahrscheinlich sowieso total verlaust.«
    Peter versuchte den Ärger in seiner Stimme zu unterdrücken. »Ich buddle ihn aus«, sagte er.
    »Auch recht«, sagte der Scharführer. »Wir können ihn ja auch nicht für immer da liegen lassen.«
    Peter entfernte weiter den Schutt um die Leiche herum. Wann hatte er ihn zuletzt gesehen? In jener schrecklichen Nacht am Gleisdreieck, als der andere polnische Junge Peter eine Klinge an die Kehle gedrückt hatte.
    Wladek hatte sich in den vergangenen achtzehn Monaten verändert, aber nicht in der Weise, wie heranwachsende Jungen sich normalerweise verändern. Er war zum Skelett abgemagert. So wenig Fleisch, wie er auf den Knochen hatte, fragte sich Peter, wie er überhaupt hatte laufen, geschweige denn arbeiten können. Was hatte er überhaupt hier draußen in Wilmersdorf gemacht? Vielleicht hatte man ihn in der Elektrofabrik eingesetzt oder auf einer anderen Baustelle oder einem Trümmergrundstück. Seine Hände waren vernarbt und rau von harter körperlicher Arbeit, sein Körper von kleinen Abschürfungen und Wunden übersät. Peter musste an die alten Seefahrer mit ihren von Skorbut zerfressenen Körpern denken, über die er gelesen hatte. Der Körper des armen Wladek hatte ähnliche Qualen erdulden müssen. Peter fiel wieder ein, wie ihn damals der deutsche Offizier in Polen ausgesucht und davon gesprochen hatte, Essen gebe man den Deutschen, nicht den Polen. Die Nazis hatten Wort gehalten. Aber jetzt sah Wladek ganz friedlich aus. Peter hoffte, dass ihn einfach eine Bombe erwischt und sofort getötet hatte.
    Nachdem er genug Schutt beiseitegeschafft hatte, um Wladek herauszuziehen, hob er ihn auf und trug ihn an den Straßenrand zu den anderen Leichen. Der Junge wog so wenig, dass Peter zwei von seiner Sorte hätte tragen können. Behutsam legte er ihn, den Kopf auf der Bordsteinkante, zu den anderen Toten und streckte dann seine Beine aus, schloss ihm die Augen und verschränkte seine Arme vor der Brust.
    »Verschwende nicht noch mehr Zeit an den Polacken«, blaffte einer der Scharführer und schickte Peter zu einem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Dort arbeitete er noch eine Stunde, bemüht, nicht an das zu denken, was er gerade erlebt hatte.
    Zu müde, um mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren, nahm Peter die U-Bahn, die zu seiner Überraschung immer noch in Betrieb war. Er war zwar erschöpft, konnte aber nicht schlafen gehen, bevor er den stechenden Schwefelgestank von Haar und Körper geschrubbt hatte. Und selbst als er in dem frisch

Weitere Kostenlose Bücher