Ausländer
unscheinbar – er hätte sie wahrscheinlich nicht einmal wiedererkannt. Das Einzige, woran er sich erinnerte, war das Parteiabzeichen an ihrer Strickjacke. Beim Gedanken daran musste er lächeln. Er sah die anderen Leute auf der Straße an und fragte sich, wie viele wohl so waren wie diese Frau. Bestimmt nicht mehr als eine Handvoll.
Beim Abendbrot bei den Kaltenbachs fühlte er sich fast genauso unwohl wie auf seinem Botengang. Er saß mit ihnen am Tisch und kam sich doch vollkommen fremd vor. Jeder von ihnen, überlegte er mit wachsender Wut, würde mich, wenn er von meinen Aktivitäten wüsste, ohne zu zögern an die Gestapoverraten. Plötzlich hatte er große Sehnsucht nach seinen Eltern und dem ruhigen Leben auf dem Bauernhof.
Er zwang sich zu einem Lächeln und fragte Traudl nach dem Hockeyturnier, das nachmittags stattgefunden hatte. »Wir haben vier zu null verloren«, gab sie Auskunft, ohne ihn anzusehen. Niemand sonst sprach ein Wort. Peter merkte, dass sie alle genauso sehr mit sich beschäftigt waren wie er selbst.
Kapitel vierundzwanzig
2. März 1943
In der Nacht zum 2 . März kamen die Briten erneut in massiver Stärke angeflogen. Als Peter das an- und abschwellende Heulen des Luftalarms hörte, wollte er gerade zu Bett gehen. Er war erschöpft und sehnte sich nach Schlaf, nachdem er an diesem Abend erneut Lebensmittel für die U-Boote ausgeliefert hatte. Die Arbeit an sich war nicht schlimm. Aber die Angst, die Furcht, gefasst zu werden, die Ausreden, die er den Kaltenbachs gegenüber erfinden musste, um seine Spuren zu verwischen – all das war anstrengender als ein Zwanzig-Kilometer-Geländemarsch mit der HJ .
Schnell zog er sich wieder an, sprang aufs Fahrrad und fuhr um sein Leben. Die Feuerwarte befand sich nur fünf Fahrradminuten entfernt. Als er dort ankam, eilten schon viele Leute aus den Theatern und Lokalen, um Schutz in ihren Kellern zu suchen.
Die Lage sah nicht gut aus. Wenn die Sirenen tagsüber ertönten, handelte es sich meist um Fehlalarm oder allenfalls um ein, zwei Mosquitos. Pech für jeden, der von einer Bombe aus diesen Flugzeugen getroffen wurde, aber für alle übrigen in der Stadt nicht der Rede wert. Bei nächtlichen Angriffen drohte weitaus mehr Gefahr. »Da kommt was Großes auf uns zu«, sagte der Chef der Feuerwarte. »In einer halben Stunde sind sie hier, wenn sie nicht den Kurs ändern und Richtung Stettin oder Rostock abdrehen.«
Doch das war nicht der Fall, und der Angriff war um ein Vielfaches schlimmer als sämtliche, die im Januar stattgefunden hatten. Dem Dröhnen der Motoren nach zu schließen mussten es Hunderte von schweren Bombern sein. Die Wächter sahen vom Dach aus die Detonationen und die Feuer, die im Südwesten der Stadt wüteten. Peter brachte die Nacht damit zu, dem fernen Donner der Sprengbomben zu lauschen und zu beten, er möge nicht näherkommen. Im Morgengrauen schickte man ihn nach Wilmersdorf, den nächstgelegenen Stadtteil, der bombardiert worden war. »Geh nachsehen, ob du irgendwie helfen kannst«, wies der Einsatzleiter Peter an. »Vermutlich hat es erhebliche Schäden gegeben.«
Kaum war Peter draußen in der kalten Wintermorgenluft, schnürte ihm der Gestank von Schwefel die Kehle zu. Über der Stadt hing ein seltsamer gelber Nebel, den das Morgenlicht kaum aufzulösen vermochte. Das hatte er noch nie gesehen, auch nicht bei den Angriffen im Januar.
Wilmersdorf lag zwanzig Minuten strammer Fahrt entfernt, und als er in der Detmolder Straße eintraf, bot sich ihm ein Bild völliger Verwüstung. Bis jetzt hatte er ein, zwei von verirrten Bomben zerstörte Wohnblocks oder Reihenhäuser gesehen. Hier jedoch waren ganze Straßenzüge in der Nähe einer Elektromaschinenfabrik zerbombt. Die Feuerwehr kämpfte verzweifelt, um lichterloh brennende Häuser zu löschen, viele andere Gebäude schwelten noch. Es stank widerlich nach Verbranntem, Abwasser und ausströmendem Gas.
Zwischen Rauch und Schutt irrten Menschen umher wie lebende Leichen, Kleidung und Gesichter rußgeschwärzt. Andere schrien hysterisch. Die gesamte Breite der Straße war mit Trümmern und Möbelstücken übersät, manche davon fast nichtmehr zu erkennen, andere noch intakt. Hier ein Schrank, dort ein metallenes Bettgestell. Peter dachte an Charlottes Puppenhaus. Es war, als hätte die Hand eines Riesen in den Wohnungen gewütet und sämtliches Hab und Gut der Menschen auf die Straße geschleudert.
Auch Leichen lagen dort, bereitgelegt zur Identifizierung,
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