Ausländer
war Journalistin und galt ebenfalls als vertrauenswürdig. Man musste einfach nur mitspielen und den richtigen Leuten gegenüber die richtigen Worte wählen.
Ein Geräusch an der Tür. Anna kam von der Bibliothek zurück.
»Du siehst beunruhigt aus, Mutti«, meinte sie. »Was ist passiert?«
Ula erzählte ihr, dass die Familie Abraham krank sei und Extrarationen benötigte. »Also noch mehr Botengänge.« Sie seufzte.
»Wir brauchen Hilfe, Mutti«, sagte Anna.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Zu schwierig. Woher soll man wissen, wen man fragen kann?«
Es war eine hohe, fast schon an Zauberei grenzende Kunst, zu entscheiden, wem man gefahrlos etwas anvertrauen konnte und wem nicht. Sicher konnte man niemals sein. Ein kleiner Fehler, und das ganze Netzwerk von Freunden und Verwandten flog auf.
»Wir sollten Peter fragen«, sagte Anna. »Du weißt, dass man ihm vertrauen kann. Er wird uns nicht verraten.«
»Das ist nicht in Ordnung, Anna«, sagte sie. »Viel zu gefährlich. Wie würdest du dich fühlen, wenn er verhaftet und hingerichtet wird?«
»Ich habe ihn schon gefragt«, erwiderte Anna. »Er will uns helfen.«
Ula war zu müde, um sich aufzuregen. Eigentlich hätte sie wütend auf Anna sein müssen. Jetzt wusste noch jemand über ihre Aktivitäten Bescheid. Noch jemand, der sie unter Folter an die Gestapo verraten konnte. Und sie mochte Peter zwar, hielt ihn aber für einen Hitzkopf – zu jung und zu dumm für eine so gefährliche Aufgabe. Doch sie war so erschöpft, dass es ihr vorkam, als ob ihr Körper gar nicht zu ihr gehöre. »Na schön«, sagte sie schließlich mit einem Seufzer.
Anna nahm die Hand ihrer Mutter. »Er wird vorsichtig sein. Er kann während der Luftangriffe ausliefern, wenn niemand sonst unterwegs ist.«
»Blödsinn«, entgegnete Ula und zeigte damit nun doch ein wenig ihre Verärgerung. »Er kann doch nicht mit einem Sack Lebensmittel zum Dienst erscheinen.« Kaum hatte sie das ausgesprochen, bereute sie es schon. Sie hatte schreckliche Schuldgefühle, dass sie ihre Tochter in diese Sache mit hineinzog. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt kam das Netzwerk kaum mehr zurande und brauchte jede sich bietende Unterstützung.
Anna bat Peter, am nächsten Nachmittag nach der Schule bei ihr vorbeizukommen. Eine Wohnung in der Salzburger Straße musste mit Lebensmitteln beliefert werden. Die Webers, alte Freunde von Otto und Ula, versteckten wieder eine jüdische Familie. Da sie die Essensrationen teilten, litten sie alle Hunger.
Als Peter in der Wohnung der Reiters eintraf, war Anna selbst gerade unterwegs, um eine Lieferung zu überbringen. So lud Ula ihn zu einem Kaffee ein. »Peter, du musst das nicht machen«, sagte sie. »Aber es gibt jede Menge zu tun, und du wärst uns eine große Hilfe.«
Bevor er ging, fragte sie: »Hat Anna dich über den Notfallplan unterrichtet?«
Peter schüttelte den Kopf.
»Sollte die Gestapo etwas mitkriegen, gibt es einen sicheren Unterschlupf. Also merk dir für den Fall, dass irgendwas passiert und wir untertauchen müssen, diese Nummer«, erklärte sie. »Kreuzberg 1791 .«
»Ich schreib es mir auf«, versicherte Peter.
»Auf keinen Fall«, widersprach sie. » 1791 . Das ist einfach zu merken. Das Jahr, in dem Mozart gestorben ist. Du rufst die Nummer an und fragst nach Wolfi. Verstanden? Wolfi, wieWolfgang Amadeus Mozart. Vergiss das bloß nicht, Peter. Es ist für den Fall, dass jemand mithört.«
Dann gab sie ihm ein kleines Päckchen mit Lebensmitteln und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, »als Talisman«. Und schon war er unterwegs zu der Adresse, die sie ihn auswendig hatte lernen lassen. Falls man ihn kontrollierte, wäre das nicht schlimm. Er konnte sagen, dass er seiner Großmutter etwas zu essen brachte. Das wirkliche Risiko bestand darin, dass die als Versteck dienende Wohnung vielleicht unter Beobachtung stand und die Gestapo gerade dann zuschlug, wenn er dort eintraf.
Als er an die Eingangstür klopfte, schlug sein Herz so laut, dass er glaubte, jemand könnte es hören. Die Tür wurde sofort geöffnet. Er trat ein und übergab einer Frau mittleren Alters die Lebensmittel. Dabei zitterte er so sehr, dass er das Paket fallen ließ und ein Ei zerbrach. Nach einer gemurmelten Entschuldigung war er schon wieder draußen. Dort wartete niemand, um ihn zu verhaften. Alles war gut gegangen.
Auf dem Nachhauseweg versuchte sich Peter an das Gesicht der Frau zu erinnern, die ihm geöffnet hatte. Sie hatte so normal ausgesehen, so
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