Ausländer
nächsten Tag zur Schule, doch wenn er dafür zu müde war, kehrte er stattdessen nach Hause zurück. Meist war er dann allein in der Wohnung, nur manchmal war außer ihm noch Elsbeth da, die bei der Post Schichtdienst hatte.
Eines Vormittags sah er beim Betreten der Wohnung, wie sie nackt von ihrem Schlafzimmer ins Bad ging. Laut kreischend lief sie in ihr Zimmer zurück. »Hör auf, mich anzuglotzen, duabscheulicher Bengel!«, schrie sie. Peter war zu verlegen, um etwas zu erwidern. Ihn ärgerte ihre anhaltende Feindseligkeit, aber ihr Anblick fesselte ihn nach wie vor.
Warum nur hatte sie eine solche Abneigung gegen ihn? Er sprach mit Anna darüber. »Elsbeth mag überhaupt niemanden, Peter«, meinte sie lachend. »Sie ist einfach nur ein Eisklotz. Aber sie hat schon was. Mit ihrem schwarzen Haar und ihrer porzellangleichen Haut sieht sie aus wie eine böse Fee. Sei bloß auf der Hut! Wenn du nicht aufpasst, wird sie dich noch mit einem Fluch belegen!« Dabei beschrieb sie mit der Hand eine Bewegung, als hielte sie einen Zauberstab.
Aber nicht nur Elsbeth sorgte für eine unbehagliche Stimmung. Charlotte war vor Kurzem den Jungmädeln beigetreten, und nach einem Abend oder Nachmittag mit ihrer Gruppe kam sie oft mürrisch und erschöpft nach Hause. Liese und Traudl schimpften sie aus, wenn sie wenig Interesse daran zeigte, Handschuhe für die Soldaten zu stricken oder Strohpantoffeln für die Verwundeten im Lazarett zu flechten. Sie tat Peter leid. Sie war erst zehn und schon müde genug von der Schule. Aber er wagte nicht, etwas zu sagen.
Die Gespräche beim Essen – wenn es sich nicht vermeiden ließ, miteinander zu reden – verliefen knapp und missgelaunt. Vorbei waren die Zeiten, als sich der Professor über die großartigen Möglichkeiten im Ostland ausließ oder über die besten wissenschaftlichen Methoden, in Deutschland die Sozialschmarotzer auszumerzen.
Doch gelegentlich wetterte Kaltenbach immer noch über Dinge, die er in der Zeitung gelesen hatte. Dann platzte Peter fast vor unterdrücktem Widerspruch und fragte sich, wie lange er es wohl noch schaffte, den Mund zu halten.
Anfang April berichteten die Zeitungen von der Verhaftung des Konzertpianisten Karlrobert Kreiten. Die Anklage lautete auf »Wehrkraftzersetzung«. Peter war zutiefst schockiert. Er erinnerte sich an Kreiten als einen ziemlich verweichlichten jungen Mann mit einem Haarschopf, der ihm beim Spielen über die Stirn fiel. Wie sollte so jemand die deutsche Wehrkraft zersetzt haben?
Kaltenbach las den Artikel seiner Familie vor. Kreiten wurde außerdem beschuldigt, »den Willen des deutschen Volkes gelähmt und untergraben« sowie »verächtliche Bemerkungen über den Führer« von sich gegeben zu haben.
»Dafür wird sein Kopf rollen«, sagte Kaltenbach.
»Du meinst, sie werden ihn töten?«, fragte Peter. »Wie kann ein so unbedeutender Mensch dermaßen gefährlich sein?«
Kaltenbach sah Peter stirnrunzelnd an. »Bringen sie dir in der Schule und bei den HJ -Versammlungen denn gar nichts bei?«, erwiderte er gereizt. »Im letzten Krieg wurde das deutsche Volk von Verrätern an der Heimatfront in die Knie gezwungen. Wir waren unbesiegt im Feld, und kein feindlicher Soldat hatte einen Fuß in unser Vaterland gesetzt, und trotzdem mussten wir kapitulieren. Der Führer ist entschlossen, so etwas in diesem Krieg nicht zuzulassen. Dieser ›unbedeutende Mensch‹ hätte es besser wissen müssen, als solch defätistisches Gift zu versprühen. Noch dazu in seiner privilegierten Stellung – er spielt Musik, während andere junge Männer seines Alters für die Verteidigung unseres Landes gegen die Sowjets ihr Leben lassen.«
Peter schüttelte den Kopf. »Aber es waren doch wir, die in Russland einmarschiert sind. Wir haben sie angegriffen!«
»Das ist bolschewistisches Gift, Peter«, herrschte Kaltenbachihn an. »Der Führer hat unsere Militäraktion aus Gründen der Selbstverteidigung befohlen.«
»Onkel Franz«, sagte Peter. »Ich war dort, als es passiert ist. Das Haus meiner Familie war nicht weit von der Grenze entfernt. Es hat keinen Angriff der Sowjets gegeben.«
»Geh auf dein Zimmer und lass dich hier bei uns am Tisch nicht mehr blicken, bis du dich für dein Verrätergeschwätz entschuldigt hast«, befahl Kaltenbach. »Und falls ich dich noch einmal gegen das Land reden höre, das dich mit offenen Armen aufgenommen hat, stecke ich dich in den nächsten Zug zurück nach Warschau.«
Peter machte sich davon, bevor er
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