Ausländer
Traudl hingegen, die bei seiner Aufnahme in die Familie so freundlich gewesen war, lud ihn nicht mehr ein, sie irgendwohin zu begleiten.
Charlotte hatte nun öfter Albträume. Ihre Schreie rissen alle aus dem Schlaf. Wenn Frau Kaltenbach sie beim Frühstück dafür ausschalt, brach sie in Tränen aus. »Mutti, ich will nicht sterben, wenn die Tommys uns bombardieren.«
Da fand Professor Kaltenbach wieder ein wenig zu seiner alten Freundlichkeit zurück: »Charlotte, mein Liebling. Unsere Luftabwehr wird von Tag zu Tag besser. Außerdem haben wir Peter hier zu unserem Schutz!«
Peter war überrascht, dass sein Vormund so großmütig über ihn sprach. In letzter Zeit war er ihm gegenüber sehr reserviert gewesen. Charlotte ließ sich aber nicht überzeugen. »Er wird uns nicht beschützen. Er ist ein Verräter. Er hört diese schmutzige Jazzmusik, wenn du nicht da bist!«
Unwillkürlich lief Peter rot an. Es stimmte. Wenn die anderen Kaltenbachs ausgegangen waren und er allein auf Charlotte aufpasste, legte er eine 78 er-Jazzplatte auf, die er Segur abgekauft hatte.
Kaltenbach sah ihn kühl an. Diese Woche hatte es zwischen ihnen bereits eine Auseinandersetzung über Musik gegeben, als Peter eines der »Lieder ohne Worte« von Mendelssohn-Bartholdy auf dem Klavier in der Wohnung gespielt hatte. Traudl und Charlotte waren hereingekommen, um zuzuhören, und hatten sich auf dem Sofa zusammengerollt, verzaubert von der wehmütigen Melodie. Schon als kleiner Junge hatte Peter das Stück auswendig gelernt und es so oft gespielt, dass seine Eltern laut aufstöhnten, wenn sie es hörten. Seit seiner Ankunft in Berlin hatte er das Klavier der Kaltenbachs nicht angerührt, aus Angst, es würde zu viele schmerzliche Erinnerungen in ihm wachrufen.
Die Mädchen bettelten, er solle weiterspielen, aber als er zu einem anderen Stück ansetzte, kam Herr Kaltenbach ins Zimmer gestürmt und schlug Peter den Tastaturdeckel auf die Finger. Aus Peters völlig entgeistertem Blick schloss der Professor, dass Peter überhaupt nicht bewusst war, was er falsch gemacht hatte.»Mendelssohn ist Jude«, fuhr er ihn an. »Hörst du denn deinen Lehrern nicht zu? Das müssen sie dir doch beigebracht haben!«
Peter war so wütend geworden, dass er aufgesprungen war und geschrien hatte: »Nein, das habe ich nicht gewusst. Aber wenn ich Schulunterricht hätte, anstatt beim Luftschutz meine Zeit mit Nichtstun zu verplempern, hätte ich es bestimmt erfahren.«
Daraufhin hatte Charlotte gejammert: »Aber das ist doch so eine hübsche Melodie, Vati.«
Einen Augenblick lang hatte Peter gedacht, der Professor würde ihn gleich schlagen. So offen aufsässig hatte er sich noch nie gegeben. Aber anscheinend war Kaltenbach sein eigenes Verhalten peinlich gewesen.
»Wir vergiften die Atmosphäre unseres Heims nicht mit den schmutzigen Ergüssen eines jüdischen Komponisten«, hatte er verkündet, offenbar bemüht, ruhig zu bleiben, und war aus dem Zimmer gegangen.
Aber Swing zu hören war etwas anderes – das war unverhohlene Rebellion.
»Stimmt das, was Charlotte sagt – dass du Jazz hörst?«, fragte Kaltenbach. Die ganze Familie starrte Peter an.
»So etwas würde ich nie tun«, erwiderte Peter.
Da begann Charlotte zu trällern. »Iss juh iss ohr iss juh änt mei bähbie … So geht das Lied. Er legt es auf und hüpft dazu im Wohnzimmer herum wie ein Hottentotte.«
Sofort machte Peter einen Rückzieher. »Na gut, ich habe es auf dem Markt gefunden, an einem Gebrauchtwarenstand. Ich wusste nicht, dass es ›verboten‹ ist.«
Eine schwache Ausrede. »Ich will in meinem Haus keine entartete Musik haben«, zischte Kaltenbach. »Du, mein Freund,bewegst dich auf sehr dünnem Eis. Falls so etwas noch einmal vorkommt, bringe ich dich in die Prinz-Albrecht-Straße und übergebe dich der Gestapo. Und jetzt her mit dieser Platte.«
Peter holte sie aus seinem Zimmer und reichte sie ihm widerspruchslos. Herr Kaltenbach wickelte sie vor aller Augen in die Morgenzeitung, um sie mit einem Hammer in Stücke zu schlagen.
Kapitel achtundzwanzig
Juni 1943
Peter ging jetzt mindestens zwei Mal die Woche zu den Reiters. Mehr denn je hatte er das Bedürfnis, den Kaltenbachs zu entfliehen. Diese wiederum nahmen an, er besuche lediglich Anna, und verschwendeten keinen weiteren Gedanken daran. Zumeist traf sich Peter tatsächlich mit Anna, aber etwa alle zwei Wochen besuchte er Familien, die U-Boote versteckten.
Heute würde Anna nicht zu Hause sein, das wusste
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