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Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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mitgeteilt, ihr Kind sei an Masern gestorben, obwohl das Kind schon einmal daran erkrankt gewesen war. Masern kannman aber nur einmal im Leben bekommen, du kannst dir also vorstellen, was das für einen Aufruhr ausgelöst hat. Oder wir gaben als Todesursache einen Blinddarmdurchbruch an, obwohl das Kind gar keinen Blinddarm mehr hatte. Wir haben sie immer verbrannt, sobald sie ›desinfiziert‹ waren. Das hat uns eine Menge Ärger erspart. Denn dadurch war keine Autopsie mehr möglich.«
    Sie lachte freudlos auf.
    Peter, der seine Gefühle nicht länger verbergen konnte, schüttelte ungläubig den Kopf. »Was passierte denn, wenn sich Leute beschwerten?«, fragte er.
    »Wenn es nur die Eltern waren, konnten wir sie abwimmeln. Wir sagten dann, angesichts der vielen Patienten, die wir zu betreuen hätten, käme es bedauerlicherweise auch zu Fehlern. Wenn sie dann immer noch nachbohrten, erinnerten wir sie daran, dass sich das Vaterland im Krieg befinde und aufgrund der verwundeten Soldaten unsere medizinischen Kapazitäten bis an ihre Grenzen ausgeschöpft seien. In den meisten Fällen funktionierte das. Aber die Hartnäckigeren schalteten Anwälte ein oder Priester oder andere berufsmäßige Schnüffler.«
    Peter, der jedem ihrer Worte mit erschütterter Faszination gelauscht hatte, konnte sich nicht mehr recht konzentrieren. Es war einfach zu viel, um es verdauen zu können. Er wandte den Kopf ab und starrte aus dem Fenster.
    »Ich langweile dich doch hoffentlich nicht mit dieser traurigen Geschichte?«, fragte sie.
    Peter blickte sie wieder an und schüttelte den Kopf. Er war sprachlos vor Entsetzen.
    Sie war entschlossen, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen. »Die Bischöfe mischten sich ein. Predigten von den Kanzelnherab. Unser Programm wurde allgemein bekannt. Da kam von oben die Anweisung, die Sache zu stoppen, aber wir hatten schon viel erledigt … Unser Auftrag war so gut wie erfüllt.«
    Sie hielt inne. »Also habt ihr alle mit Medikamenten umgebracht?«, platzte Peter heraus. Ihm war ganz schwindlig, er konnte kaum glauben, was er da hörte.
    Wieder ein freudloses Lachen. »Um Himmels willen, nein«, antwortete Elsbeth. »Das hätte ja ewig gedauert. Wir haben sie vergast. Man hat einen Duschraum zur Gaskammer umgebaut. Überall schwarze und weiße Fliesen. Statt Wasser kam Gas aus den Duschköpfen. Das ging viel schneller, und man konnte gleich ganze Gruppen auf einmal umbringen.
    Wenn sie aus dem Bus stiegen, brachten wir sie nacheinander einzeln in ein Untersuchungszimmer. Sie mussten sich ausziehen, und der Arzt überprüfte, ob es sich auch um die richtige Person handelte. Wer Goldzähne hatte, wurde vom Arzt mit einem kleinen Kreuz zwischen den Schultern markiert. Dann stempelten wir ihnen eine Nummer auf die Hand – mit einem dieser Datumsstempel, die man in Büchereien benutzt –, und schließlich wurden sie fotografiert.
    Sie schienen das alles nicht in geringster Weise als beunruhigend zu empfinden, denn sie ahnten ja nicht, was mit ihnen geschehen würde. Dann sagten wir ihnen, nun würden sie geduscht. Zehn Minuten später waren sie tot. Die Brenner – so nannten wir die Leute, die sie verbrennen sollten – transportierten die Leichen aus der Gaskammer in den Totenraum. Dort brach man ihnen die Goldzähne heraus, und manchmal wurden auch die Gehirne und andere Organe entnommen. Sie kamen in durchsichtige Glasbehälter und wurden in Vaters Büro oder in andere rassenkundliche Institute gebracht. Immer wenn ichin der Küche solche Glasbehälter sehe, muss ich an diese präparierten Gehirne denken …
    Danach kamen die Leichen in die Verbrennungsöfen, und das war’s. Keinerlei Spuren. Die Asche wurde als Düngemittel verwendet, ein Teil aber für die Urnen aufbewahrt. Denn wenn die Angehörigen benachrichtigt wurden, wollten die meisten eine Urne mit der Asche des Verstorbenen. Schade nur, dass sie nie die richtige Asche bekamen.«
    »Hast du all das sonst noch irgendjemandem erzählt?«, fragte Peter.
    Sie winkte wegwerfend mit der Hand. »Als ich nach Hause kam, sprach ich mit Mutter und Vater darüber. Ich habe ihnen versucht zu erklären, warum ich das nicht mehr machen konnte. Sie wollten nichts davon hören. ›Das ist nicht grausam‹, sagte Mutter. ›Deine Arbeit hat eine solide wissenschaftliche Grundlage. Du solltest dich von diesen kleinlichen moralischen Urteilen frei machen.‹
    Vater war ganz besonders stolz darauf, dass seine Tochter an der Aktion T 4 beteiligt war.

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