Ausländer
So nannte man dieses Programm. Unter seinen Kollegen war es ein offenes Geheimnis, dass seine Tochter daran mitwirkte, und es war ihm schrecklich peinlich, als ich dort aufgehört habe.
Vater und Mutter behandelten mich wie eine Versagerin. Darum haben sie mir auch nicht geholfen, hier eine anständige Arbeit zu finden. Und deshalb schufte ich jetzt im Postamt zusammen mit lauter Schwachköpfen und Arbeitssklaven.«
»Warum hast du aufgehört?«, wollte Peter wissen. »Was hat dich dazu gebracht?«
»Es waren die geistesgestörten Patienten«, sagte sie und zündete sich eine weitere Zigarette an. »Die Schizophrenen, dieKriegszitterer. Viele hatten Koffer bei sich, und zu meinen Aufgaben gehörte es, ihr persönliches Eigentum auszusortieren. Die Armbanduhren, die Broschen und Armbänder, die Kämme und Haarbürsten. Es waren Menschen wie du und ich, die auf ihre Erscheinung Wert legten. Manche hatten Rosenkränze dabei. Oder einen kleinen Teddybär oder eine Puppe aus ihrer Kinderzeit.«
Sie begann leise zu weinen. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Dann fing ich an, über die Leute nachzudenken, von denen sie diese Dinge vielleicht als Geschenk bekommen hatten. Doktor Knodel sagte immer, die Schizophrenen seien nur leere Hüllen. Dass sie völlig hohl wären. Aber an den Dingen, die sie ins Krankenhaus mitbrachten, erkannte ich, dass das nicht stimmte. Das war der Grund, warum ich die Arbeit nicht länger machen konnte.
Und das Komische daran war, dass ich auf Verständnis stieß. Knodel versuchte nicht, es mir auszureden. Er dankte mir einfach für meinen wertvollen Dienst an der Volksgemeinschaft.«
Peter war angewidert. Elsbeth kam zu ihm und setzte sich neben ihn. Dann legte sie eine Hand auf seinen Arm. »Danke, Peter«, sagte sie. »Dass du mir zugehört hast. Ich musste mal mit jemandem reden. Mit jemandem, der mich nicht melden würde. Der mir nicht vorwirft, schwach zu sein. Manchmal wünschte ich, ich wäre an ihrer statt gestorben.«
Peter konnte nicht mehr an sich halten. Wut stieg in ihm auf. Er schüttelte ihre Hand ab. »Elsbeth, wie kannst du mit dieser Schuld bloß weiterleben?« Vor Zorn war er rot angelaufen. »Du bist ausgebildete Krankenschwester. Deine Aufgabe ist, Menschen zu versorgen. Was ist das für eine Welt, in der Krankenschwestern ihre Patienten umbringen?«
Auch sie war jetzt zornig. »Zumindest haben wir sie rasch und leise getötet. Ich habe gehört, in Polen lässt man sie von der SS erschießen. Wenigstens das haben wir nicht getan.«
Sie verfiel wieder in ihren eisigen Gleichmut und weinte auch nicht mehr. Ihre Stimme hatte wieder den gewohnt verächtlichen Ton angenommen. »Du hast recht, Peter. Ich bin ein Ungeheuer. Und es fällt mir schwer, damit weiterzuleben. Aber das alles bleibt unter uns, oder Vater erfährt, dass du ihm nachspioniert hast.«
Sie verließ das Zimmer. Peter blieb wie betäubt sitzen. Er bedauerte seinen Wutausbruch, aber er hatte nichts dagegen tun können. Ihre Geschichte war unsäglich abscheulich. Aber jetzt waren sie beide erst einmal Mitverschwörer. Er hatte im Heim der Kaltenbachs etwas Unverzeihliches getan, und sie würde es für sich behalten. Peter fragte sich nur, wie lange.
Einige Minuten später hörte er Schritte im Korridor, dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sie war ausgegangen. Als sie später wieder zurückkam, war es, als wäre zwischen ihnen beiden nie ein Wort gefallen.
Kapitel siebenundzwanzig
Mai 1943
Von da an beschlich Peter jedes Mal ein banges Gefühl, sobald er sich dem Wohnblock mit den großen Holztüren näherte, in dem die Kaltenbachs wohnten. Wenn sie doch bloß mehr wie die Reiters wären! Seit einiger Zeit waren die Reiters außerdem enorm gut gelaunt. »Stefan ist nach Italien versetzt worden«, hatte Ula ihm erzählt. »Nach Sizilien. Die Sonne wird ihm guttun. Er soll dort die Verbindungsarbeit mit den italienischen Divisionen übernehmen.«
Kaltenbach hingegen war seiner Frau immer ähnlicher geworden – der gleiche schreckliche, undurchdringliche Panzer, die gleiche innere Kälte. Kürzlich war Peter aufgefallen, dass Kaltenbachs Hände zitterten. Und er war in fürchterlicher Stimmung.
Die Mädchen wirkten verstört. Sie meckerten nicht mehr über die geizigen Spender für das Winterhilfswerk. Es war, als spürten sie, dass sich der Wind drehte. Und Elsbeth verhielt sich seit jenem seltsamen Vormittag äußerst distanziert. Aber sie war nicht mehr ganz so boshaft zu ihm wie früher.
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