Ausländer
Diese Kinder waren ›lebensunwertes Leben‹ oder ›nutzlose Esser‹. Ich betete all das herunter, als Doktor Knodel mich danach fragte. Er war Arzt in einer der Fachabteilungen, in die wir die Kinder schickten. Manchmal kam er ins Krankenhaus, um die Patienten selbst zu begutachten. Ihm muss meine Einstellung gefallen haben, denn er fragte mich, ob ich bei ihm in Brandenburg arbeiten wolle.
Er machte mir das Angebot, weil sie dort überaus heikle Arbeit verrichteten und daher nach Personal Ausschau hielten, das zu äußerster Diskretion fähig war.
Und ich sagte zu. Vater hatte mir viel von seinen Forschungen erzählt, deswegen wusste ich, dass die Rassenlehre im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Revolution stand. Ich erinnere mich noch Wort für Wort an den kleinen Vortrag, den er mir hielt. ›Stell dir eine Welt ohne Krankheit und Schwäche vor. Eine Welt ohne Elend. Das ist es, was wir schaffen können, jetzt, da die Nationalsozialisten an der Macht sind.‹ Hättest du nicht genauso gehandelt, Peter? Wenn du davon überzeugt wärest? Vater sagte, die modernen humanistischen Werte würden das Schwache und Wertlose bevorzugen. Doch wir müssten unsebenso verhalten wie ursprünglich die Natur und das Minderwertige ausmerzen. In der modernen Welt könnten die Werkzeuge der Natur das nicht mehr leisten, deshalb müssten wir es kraft unseres politischen Willens durchsetzen.«
Peter erwiderte nichts. Er versuchte so neutral wie möglich zu wirken, denn er wollte verhindern, dass sie seine Abscheu bemerkte und sich dann verschloss. Doch seine Vorsicht war unbegründet, sie sah ihn nicht einmal an. Es war, als spräche sie zu sich selbst. Dieser Monolog strömte mit so wenig Unterbrechungen aus ihr heraus, dass Peter sich fragte, ob sie womöglich schon öfter allein hier gesessen und laut mit sich selbst über diese entsetzliche Geschichte gesprochen hatte.
»Also wechselte ich die Seite. Anstatt bei der Selektion der Kinder zu helfen, die in die Fachabteilungen geschickt wurden, begann ich in einer dieser Abteilungen in Brandenburg zu arbeiten. Es war ein ungewöhnlicher Ort – eine ehemalige psychiatrische Klinik, umgeben von einem hohen Zaun und Warnschildern, auf denen ›Ansteckungsgefahr‹ stand, um Neugierige abzuschrecken.
Ich fuhr als Schwester in dem großen Bus mit den schwarzen Scheiben mit. Wir besuchten die Krankenhäuser in Berlin und in den Städten und Dörfern im Westen. Früher hatte man mit diesen Bussen die Post abgeholt. Jetzt holten wir die ›nutzlosen Esser‹ ab. Wir redeten uns selbst ein, dass wir sie zu Engeln machen würden. Erstaunlich, nicht? Wie sentimental man sein kann. Selbst wenn man so etwas tut. Allerdings war Doktor Knodel keineswegs sentimental. Er bezeichnete die Kinder als ›eine Ansammlung nicht funktionierender Teile‹, als wären es kaputte Autos, die nur noch zum Verschrotten taugten.«
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Eine Weile kam ich damit zurecht. Meine Oberschwester sagte zu mir: ›Wo kein Leid, da kein Mitleid.‹ Aber dann kamen die Zweifel. Denn es gibt kaum jemanden, der seine Umgebung gar nicht wahrnimmt. Selbst unter den wirklich hoffnungslosen Fällen, denjenigen, die nicht sprechen oder allein essen können und die ganze Zeit Windeln tragen. Selbst diese Menschen genießen es, in den Arm genommen zu werden. Wenn sie aufgewühlt sind, beruhigen sie sich, wenn man ihnen übers Haar streichelt. Und die Szenen, die sich in einigen Heimen abgespielt haben, wenn wir kamen und sie abholten … Manche dachten, wir würden mit ihnen einen Ausflug unternehmen. Sie waren so aufgeregt. Andere aber mussten von ihren Pflegern regelrecht losgerissen werden. Es gab Tränen, Geschrei, hysterische Anfälle. Ebenso wie ich wussten manche der Schwestern genau, was da vor sich ging, und zischten uns ›Mörder!‹ zu. Das hätten wir eigentlich melden müssen, aber mir leuchtete nicht ein warum. Sie haben ja das Vaterland nicht verraten. Sie waren meiner Ansicht nach einfach zu ungebildet, um den Wert unserer Arbeit schätzen zu können.
Wir versuchten, das alles geheim zu halten, aber dann fanden einige Leute heraus, was wir taten. Denn wir brachten so viele Menschen nach Brandenburg, dass Pannen vorprogrammiert waren. ›Desinfizieren‹, so nannten wir das. Sie wurden ›desinfiziert‹.«
Sie spuckte das Wort geradezu aus, angewidert von ihrer eigenen Gefühllosigkeit.
»Schließlich wurden wir unachtsam. Manchen Eltern wurde
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