Ausländer
Arzt oder zumindest ein Antibiotikum wie Prontosil. Ich werde mich umhören.«
Nach seinem Besuch bei den Webers eilte Otto zur Arbeit. Es war ein ereignisreicher Tag. Kurz nach Mittag heulten die Luftschutzsirenen. Als Otto und seine Kollegen vom Ersatzheer in der Bendlerstraße über den Innenhof zu ihrem unterirdischen Luftschutzraum hasteten, raste eine Mosquito im Tiefflug über das Gebäude hinweg. »Er hat es auf uns abgesehen«, schrie Otto und warf sich zusammen mit den anderen flach auf den Boden. Eine heftige Detonation folgte; ein Trümmerhagel ging auf die Soldaten im Hof nieder. Kaum war er vorüber, sprangen die Männer auf und klopften sich den Staub aus Haar und Uniform. Viele husteten, aber niemand brüllte vor Schmerz oder rief um Hilfe.
Otto blickte nach oben. Fensterscheiben waren geborsten, aber der Schaden war nicht allzu gravierend. Die Bombe war beim Aufprall auf das Dach detoniert. Wäre sie erst im Inneren des Gebäudes hochgegangen, hätten sie alle tot sein können.
Dann bemerkte er den Soldaten zu seinen Füßen. Einer der Diensthabenden vom Fernschreibbüro. Otto beugte sich hinab und schüttelte den Mann sanft, aber er rührte sich nicht. Ihn umgab diese eigenartige Stille, die Otto so oft an der Westfront erlebt hatte. »Der Mann hier ist tot«, rief er laut. Was für ein unglaubliches Pech! Keiner der übrigen war auch nur verletzt.Otto drehte den Toten um. Er hatte eine leuchtend rote Wunde am Hinterkopf. Ein Ziegel oder Metallteil vom Dach musste ihn mit großer Wucht exakt an einer Stelle getroffen haben, die tödlich war. Und Otto hatte direkt neben ihm gelegen.
In Kriegsgefechten geschah so etwas häufig. Fast jeder mit Fronterfahrung hatte irgendwann erlebt, dass ein Kamerad neben ihm von einem Scharfschützen oder einem Schrapnell getötet worden war. Solche Erlebnisse wurden mit einem Achselzucken abgetan. Das Schicksal konnte grausam sein oder gnädig, hieß es dann, so etwas passierte eben im Krieg. Aber Otto wusste aus persönlicher Erfahrung, dass solche Ereignisse einem jahrlang Albträume bereiteten.
Abends erzählte er Ula von dem Angriff, verschwieg aber, dass ein Mann direkt neben ihm umgekommen war. Sie machte sich schon genug Sorgen um Stefan. Dann berichtete er von Herrn Lichtmann. »Wen könnten wir fragen?«, überlegte er. Beide waren sich einig, dass ihr Hausarzt, Herr Frühauf, ein Hundertprozentiger war und daher nicht infrage kam. »Unten im Haus wohnt doch ein Doktor Glöckner«, sagte Otto. »Ich habe seinen Namen auf dem Klingelschild gelesen. Im Treppenhaus sind wir uns schon mal begegnet, aber ansonsten weiß ich nichts über ihn.«
»Könntest du ihn nicht nach dem Medikament fragen? Und so tun, als sei es für dich selbst?«, sagte Ula.
»Er wird die Wunde sicher sehen wollen. Was mache ich dann?«
»Sag ihm, es sei für einen Freund in der Wehrmacht, der fürchtet, wegen einer alten Kriegsverletzung entlassen zu werden. Und sich deshalb selbst behandeln will.«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Otto. Er spürte, dass das Glück heute auf seiner Seite war. Vielleicht würde es einfacher sein als gedacht.
Ohne Zögern machte er sich auf den Weg. Als er bei den Glöckners klingelte, öffnete ihm dessen Frau. Otto fiel sofort das emaillierte Hakenkreuz-Abzeichen auf ihrer Bluse ins Auge. Sie führte ihn in Glöckners Arbeitszimmer.
»Heil Hitler!«, blaffte Glöckner.
»Es tut mir leid, Sie zu so später Stunde zu stören, Herr Doktor. Ich bin Ihr Nachbar von oben.«
Glöckner nickte. »Wir haben uns schon mal im Treppenhaus gesehen, ja, ja.« Er wirkte ungeduldig.
Während Otto seine Geschichte erzählte, sah Glöckner ihn mit versteinerter Miene an.
»Sie sind doch Wehrmachtsoffizier«, sagte er schließlich, als Otto zu Ende gesprochen hatte. »Ich habe Sie immer für einen Ehrenmann gehalten. An diesem Täuschungsmanöver werde ich mich ganz sicher nicht beteiligen. Und jetzt gehen Sie auf der Stelle.«
Aufgewühlt kehrte Otto in seine Wohnung zurück. »Ich glaube nicht, dass er es mir abgekauft hat«, sagte er zu Ula.
»Du musst nur abstreiten, je mit ihm gesprochen zu haben«, entgegnete sie.
»Aber Frau Glöckner hat mich auch gesehen, sie hat mich hereingelassen«, erwiderte Otto.
»Dann erzählen wir der Gestapo oder wer auch immer danach fragt eben, dass die Glöckners ein schrulliges altes Ehepaar sind, das auf uns nicht gut zu sprechen ist. Somit steht dein Wort gegen ihres. Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen
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