Ausländer
er. Er vermutete, dass man ihn wieder zu den Webers in der Salzburger Straße schicken würde. Als er bei den Reiters eintraf, öffnete ihm Ula die Tür. Sie sah verstört aus.
»Wir haben ein Telegramm bekommen«, sagte sie. »Stefan ist im Einsatz verschollen. Wir wissen nichts Genaueres.«
Peter fehlten die Worte. Alles, was ihm dazu einfiel, klang einfach zu abgedroschen. Verlegen stand er da und kam sich nutzlos vor. Zum Glück hatte Ula es eilig. Sie musste auf einer Versammlung der NSDAP für die Frauenwarte Bericht erstatten und fürchtete, zu spät zu kommen. Peter nahm sein Paket, und gemeinsam verließen sie das Haus.
Seit seinem ersten Besuch bei den Webers im Februar war Peter mehrmals bei ihnen gewesen. Der Ablauf war stets der gleiche: Er übergab bereits im Flur die Nahrungsmittel oder Essensmarken und ging anschließend sofort wieder. Dabei wurde kaum ein Wort gewechselt. Aber diesmal ließ ihn FrauWeber nicht im Flur stehen, sondern bat ihn ins Wohnzimmer und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Wie immer trug sie ihr Parteiabzeichen – und unterschied sich äußerlich nicht von den vielen Frauen, die ihr Mutterkreuz stolz an ihren Wintermantel hefteten.
»Kannst du Frau Reiter ausrichten, dass wir ein Problem haben?«, fragte sie in nüchternem Ton. »Einer unserer Mieter hatte einen Unfall. Er ist auf dem Weg zur Arbeit mit seinem Rad gestürzt. Jetzt hat er eine große klaffende Wunde am Unterarm, die sich schrecklich verfärbt. Ich hoffe, Otto oder Ula kennen einen verlässlichen Arzt.«
Peter nickte. Er konnte seine Neugier nicht zügeln. »Wie viele Mieter haben Sie denn?«, wollte er wissen.
»Derzeit sind es fünf. Unser Dachboden ist groß.«
»Frau Weber, Sie sind sehr mutig, wenn ich das sagen darf.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn man verhaftet wird, spielt es für die Gestapo keine Rolle, ob man nur einem einzigen oder hundert geholfen hat – also, was macht das schon für einen Unterschied? Mehr als einmal können sie mich nicht umbringen.« Sie lächelte ihn freudlos an.
»Warum war er denn überhaupt draußen?«, fragte Peter.
»Sie müssen arbeiten. Wenn sie nicht arbeiten, bekommen sie keinen Lohn, und wenn sie keinen Lohn bekommen, ist es schwierig, genug Essen für sie aufzutreiben. Es ist ein fürchterliches Risiko, jeden Tag hinauszugehen, aber was bleibt ihnen anderes übrig? Verhungern? Es gibt da draußen noch Menschen, gute Menschen, die Juden Arbeit geben und den Mund halten.«
Sie tätschelte seinen Arm. »Du bist ein guter Junge, Peter. Und ein sehr tapferer. Aber jetzt geh besser.«
Früh am nächsten Morgen suchte Otto Reiter die Webers auf. Seit seiner Zeit in den Schützengräben war er recht gut in Erster Hilfe bewandert. Er kannte die Familie, sie waren alte Freunde. Herr Weber und er hatten sich Anfang der Zwanzigerjahre kennengelernt. Auf diese Weise funktionierten die Netzwerke: Man musste jemandem stark vertrauen können, um ihn darum zu bitten, Juden zu verstecken.
Er wollte Frau Weber nicht mit den unheilvollen Nachrichten über seinen Sohn belasten, deshalb sagte er nur: »Peter hat mir von Ihrem Notfall erzählt«, worauf Frau Weber ihn ins Schlafzimmer im oberen Stockwerk führte. »Das ist Herr Lichtmann«, sagte sie.
»Guten Tag«, begrüßte ihn der Mann mittleren Alters und erhob sich. »Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht die Hand schüttle.«
An Lichtmanns Auftreten war etwas, das Otto sofort einordnen konnte. »Ich vermute, Sie haben gedient, Herr Lichtmann«, sagte er. Sie waren etwa gleich alt, und Otto erfuhr, dass Lichtmann während des Ersten Weltkriegs als Major an der Marne und bei Passchendaele gekämpft hatte.
» 111 . Division«, erzählte Lichtmann stolz.
»Dann waren wir nur ein paar Kilometer Frontlinie voneinander entfernt«, erwiderte Otto. »Und so wird Ihnen das nun gedankt.«
»Ich dachte, mein Eisernes Kreuz würde mich und meine Familie retten«, sagte Herr Lichtmann. »Aber schließlich kamen sie doch, um uns zu holen.«
Vorsichtig löste Otto den Verband. Sofort schlug ihm von der Wunde, die sich an den Rändern grünlich verfärbt hatte, ein stechender Geruch entgegen.
»Sie ist vereitert. Wie lange ist der Unfall her?«
Lichtmann zuckte zusammen, als Otto die letzten Streifen des Verbands von seinem Arm entfernte. »Zwei Wochen. Ich bin auf einer Schotterstraße mit dem Rad gestürzt und habe die Verletzung erst gesäubert, als ich wieder zu Hause war.«
Ein Blick genügte. »Sie brauchen einen
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