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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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oft nicht einmal Strom oder fließendes Wasser. Fast die Hälfte aller Kinder ist untergewichtig, prozentual mehr als in Äthiopien. Die indische Landwirtschaft, die zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung beschäftigt, wächst seit Jahren nur minimal. Auch die Nahrungsmittelproduktion stagniert, so daß der durchschnittliche Kalorienverbrauch nach staatlichen Statistiken sogar abnimmt. Der Verfall der Preise, der Abbau von Subventionen für Saatgut, Düngemittel und Pestizide sowie die Senkung der Zölle für Einfuhren aus China, Pakistan und den Vereinigten Staaten haben viele Bauern in den Ruin getrieben. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft, wie sie von Agrarkonzernen propagiert und durch den Preisdruck zusätzlich forciert wird, kommen sie vielfach nicht zurecht. Können sie die Kredite, die sie für neue Geräte oder teures, genverändertes Saatgut aufgenommen haben, nicht mehr zurückzahlen, verlieren sie ihr Land. Derzeit begehen jährlich etwa 12.000 Bauern Selbstmord, nicht berücksichtigt die Dunkelziffer.
    Niemand in Indien würde bestreiten, daß das Elend weiterhin jeder Beschreibung spottet, schon gar nicht die regierende Kongreß-Partei mit ihren linken Koalitionspartnern, die den Wahlkampf mit sozialen Versprechungen bestritten haben. Das Parlament hat vor kurzem ein Gesetz verabschiedet, das jeder Familieein Minimum von hundert Tagen Arbeit im Jahr garantiert. Der ebenfalls neu erlassene «Right to Information Act» ermöglicht es jedem Bürger, für umgerechnet zwanzig Cent eine Anfrage an eine Behörde zu richten, die innerhalb von dreißig Tagen beantwortet werden muß. Daß es Probleme bei der Umsetzung gibt, spricht nicht gegen die gute Absicht der Regierung. Entscheidend ist: Die Wirtschaftspolitik des Landes und ein großer Teil der öffentlichen Meinung gehen von der Annahme aus, daß der wachsende Reichtum nach unten durchsickere. Mittelbar würden so auch die Ärmsten vom freien Markt profitieren, durch höhere Steuereinnahmen, durch einen Ausbau der Infrastruktur und neue Arbeitsplätze, die schlecht bezahlt, aber doch besser seien als die Arbeitslosigkeit. Aber stimmt das, stimmt es vor allem auch für die ländliche Bevölkerung? Der Bundesstaat Gujarat, in dem die Wirtschaft landesweit am schnellsten wächst, verzeichnet zugleich eine der höchsten Selbstmordraten von Bauern.
    Gewöhnlich sieht man die spindeldürren Unterschenkel der Männer nur vereinzelt oder vom Fenster aus, wenn man mit dem Zug aus der Stadt fährt, entlang der Gleise oder dann auf den Feldern mit Strohballen auf dem Rücken oder Reisig. Die zerfurchten, auf den wenigen faltenlosen Flächen wie gegerbten Gesichter, wirken stumpf wie abgenutztes Leder, tiefdunkel, hervorstechende Zähne, keine Zähne, verfaulte Zähne, Zahnlücken. Außerdem der elegante Gang selbst der ältesten Frauen, zumal im Vergleich mit den zweihundert Unterstützern aus dem Westen, die jeder für ein paar Tage mitmarschieren. Fünfundzwanzigtausend Menschen unter der Sonne sind eine schier endlose Prozession, erst recht, wenn man sie zwischen zwei der drei Reihen schnellen Schrittes überholt. Einmal, fast schon vorne angekommen, mache ich Rast an einer Tankstelle. Bis der Jeep eintrifft, der mich wieder nach vorne bringt, schaue ich mit dem Tankwart, der mir Wasser und einen Stuhl anbietet, dem Menschenstrom zu.
    – Arme Leute, sagt der Tankwart, dessen Eltern noch auf dem Feld gearbeitet haben.
    Er selbst hat Automechanik gelernt und freut sich, daß der Verkehrvon Jahr zu Jahr dichter wird. Leider nur werden die Autos immer komplizierter gebaut, mit immer mehr Elektronik, die nur die Vertragswerkstätten beherrschen. Wenn seine jüngste Tochter weiter so fleißig ist, darf sie auf die englischsprachige Senior Secondary School. Dann wird sie eines Tages vielleicht auch bei ihrem Vater tanken.
    – Sehr arme Leute, bestätige ich.
    – Was wollen sie? fragt der Tankwart.
    – Sie wollen Land, antworte ich: Sie wollen Land, um leben zu können.
Vertreibung als Industriepolitik
    Macht aus Landlosen Bauern, forderte Mahatma Gandhi bei der Unabhängigkeit. Heute geschieht täglich das Gegenteil: Aus Bauern werden Landlose. Wo Bodenschätze entdeckt, Fabriken gebaut, multinationale Konzerne angesiedelt oder eine der vielen steuerfreien Sonderwirtschaftszonen eingerichtet werden, haben die Bewohner selten eine Chance. Gedeckt von Politikern und Beamten, die mit Einnahmen für den öffentlichen und oft genug ihren privaten Haushalt

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