Ausnahmezustand
deutsches Wirtschaftsmagazin und verweist auf «den sensationellen Freizeitwert», Himalaja statt Allgäu, Goa statt Costa Brava. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt investiert der indische Staat mehr Geld in Forschung und Entwicklung als die Bundesrepublik Deutschland. In den Städten sind die Zeichen wachsenden Wohlstands unübersehbar, an dem vielleicht zweihundert, vielleicht zweihundertfünfzig Millionen Menschen wenigstens indirekt partizipieren, die Mobiltelefone, Hochhäuser und Shopping Malls. Die neuen privaten Fluglinien bieten einen besseren Service und modernere Maschinen an als die meisten Anbieter in Europa. Natürlich bucht man im Internet und fliegt nur noch per E-Ticket. Wer früher der Unteren Mittelklasse angehörte, fährt heute ein kleines Auto und schickt seine Kinder in die Privatschule. Wer mehr verdient, zieht sich in eine der
gated communities
zurück, die allerorten entstehen. Und für den Reichtum kennt Indien keine Grenzen. Das Land ist nicht länger Bittsteller, sondern künftige Weltmacht, wie es die internationale Presse rauf- und runterdekliniert.
Ich steige über die Leitplanke und schlängle mich zwischen den Autos hindurch. Wahrscheinlich würde der Verkehr trotz der gesperrten Fahrbahn fließen, wenn die Fahrer nicht zwischen den zwei verbliebenen Spuren auch noch überholen wollten, und zwar prinzipiell gleichzeitig in beide Richtungen. So sind die Wagen alle hundert Meter ineinander verkeilt wie zwei Rugbymannschaften beim Anstoß. Einige Fahrer sind ausgestiegen und schauen ungläubig zur anderen Fahrbahn. Aus Busfenstern knipsen Japaner. DaßArbeitslose und Sozialhilfeempfänger die Autobahn von Frankfurt nach Köln auch nur einen Tag blockieren dürften, wäre undenkbar. In Indien legt es keine Regierung auf eine Konfrontation an, weder in den Bundesstaaten noch in der Hauptstadt, weil die Landlosen die Untersten der Gesellschaft repräsentieren und damit die Mehrheit der Wähler. Für gestern hatte sich der Agrarminister angekündigt. Kurzfristig entschuldigte er sich mit einer Kabinettssitzung. Enttäuschung mischte sich in die Erschöpfung der Teilnehmer, dazu die Kälte der Nacht, die sie auf dem Asphalt oder dem Feld verbringen. Wohlhabende Inder haben Decken gespendet, das Stück für ein oder zwei Euro, aber es sind viel zu wenige, fünftausend bis jetzt. Entlang der gesamten Strecke verteilen Hausfrauen Gebäck, singen Schulkinder Ständchen und sprechen Lokalpolitiker Grußworte. Aus Delhi oder Bombay fährt gelegentlich ein Intellektueller oder Schauspieler vor, der einen Nachmittag lang mitmarschiert. Ein langbärtiger, weißgewandeter Heiliger, der sich dem Zug angeschlossen hat, hat dauerlächelnd bereits viertausend Schuhe gesammelt. Er selbst läuft barfuß.
Auf dem Asphalt liegt eine Illustrierte. Sie scheint einer Frau gehört zu haben, die auf der Rückbank eines winzigen Suzuki Tata telefoniert. Die Löhne in Indien sind so niedrig, daß auch Kleinwagen ihren Chauffeur haben. Im Weitergehen lese ich das Interview mit einer Moderatorin, die ihren Urlaub mit Freunden verbracht hat. Wie in der Werbung stelle ich mir das vor, junge, attraktive Leute unter Palmen, nur nicht weiß, sondern braun, hellbraun wie fast alle Inder, die sich die Malediven leisten können. Sie hatten einen Bungalow mit Meerblick, links und rechts und vorne Meer, auch der Pool mit Meerblick nach mindestens drei Seiten, etwas erhöht, um besser sehen zu können, Pool-Bar natürlich, so schön ist das, ausschlafen zu können, keine Termine, Drinks, und das Beste: keine Autos. «Stuff in my shopping bag: Nothing! I took a holiday not only from work but shopping as well. But yes, I couldn’t resist buying a pair of bikini, a pair of sunglasses, a sarong, a photo-frame and a bright pink trolley bag.» Es gibt eine teurere Kategorie für Politiker und Prominente, zu denen sie offenbarnicht gehört, etwa neunhundert Dollar die Nacht. «But why complain when I had a Jacuzzi in my bathroom.»
Sie wollen Land
250 Millionen Konsumenten sind zwar ein gewaltiger Markt für
global player
, für Indien aber eine vergleichsweise geringe Zahl. 750 Millionen Inder haben wenig oder gar nichts vom Wirtschaftswachstum. Auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen liegt Indien daher auf Rang 126, noch hinter seinem Nachbarn Sri Lanka und nur knapp vor Bangladesch. Ein Großteil der ländlichen Bevölkerung hat nach wie vor keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen oder zur Gesundheitsversorgung,
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