Außer Atem - Panic Snap
schaue, dann sehe ich mich so, wie ich vor fünfzehn Jahren ausgesehen habe. Mein Gesicht war übersät von Kreuzstich-Nähten, die wie winzige Eisenbahngleise aussahen und bei jeder Bewegung schmerzten, und mein sechsfach gebrochener Kiefer war verdrahtet. Die Ärzte, die auf kein Foto von mir zurückgreifen konnten, haben ewig an den Überbleibseln meines Gesichts herumgewerkelt – an meinen Augenhöhlen, der Nase, am Kinn, Kiefer und Stirn, an der Form meines Mundes. Sie flickten, nähten, entfernten zertrümmerte Knochen, setzten Füllsubstanzen ein und modellierten das Gesicht, das ich jetzt habe. Nur ein paar nahezu unsichtbare Narben sind geblieben, in der Nähe des Haaransatzes, unter dem Kinn, dicht am Ohr, aber ich sehe noch immer scheußliche Narben kreuz und quer auf meinem Gesicht, Frankenstein-Narben. Ich vermute, dass es mir ähnlich geht wie Menschen, die extrem abgenommen haben und sich trotzdem bis in alle Ewigkeit für fett halten.
Argwöhnisch schaue ich schließlich doch in den Spiegel. Ich habe es satt, mich so zu sehen, ohne eigenes Gesicht, ohne Identität. James ist es noch nie passiert, dass er das Gesicht, das ihn aus einem Spiegel ansah, nicht wieder erkannt hätte. Er sagt, ich wüsste nicht, was ich verlange, dabei weiß er nicht, was er mir geben kann. Meine Identität. Heute Abend werde ich anfangen, das zurückzufordern, was mir von Rechts wegen zusteht.
6
Ich klopfe an James' Tür. Die Gardinen sind zugezogen, doch die Fenster sind matt erleuchtet; im Haus brennt stetes elektrisches Licht. Keine Kerzen heute Nacht. Erst gestern habe ich durch sein Fenster gespäht, und doch scheint das lange her zu sein. Diesmal bin ich nicht zu seinem Haus geschlichen und habe auch nicht bis nach Mitternacht gewartet. Ich bin vorgefahren und habe meinen Wagen neben seinen gestellt; es ist kaum neun Uhr abends.
Als er die Tür öffnet, wanke ich einen Moment lang in meinem Entschluss. In seiner Gegenwart wird mir meine Unzulänglichkeit bewusst. Ich verdränge das Gefühl und sage: »Ich möchte es nicht vergessen.«
Eine Hand an der Tür, sieht er mich an. Sein blondes Haar ist feucht. Obwohl ich das Haupthaus kurz nach ihm verlassen habe, hat er offenbar schon geduscht und sich umgezogen. Er sieht aus, als wollte er ausgehen – eine graue Anzughose, ein langärmeligs kastanienbraunes Hemd, ein Hauch Eau de Cologne, das leicht nach Moschus riecht. Anscheinend überrascht es ihn nicht, mich zu sehen. Er öffnet die Tür weiter und sagt: »Ich habe Sie erwartet.«
Obwohl er mich nicht hereinbittet, zwänge ich mich an ihm vorbei und betrete sein Haus. Automatisch lege ich meine Wagenschlüssel auf den Tisch neben der Tür, so als hätte ich das schon viele Male getan. Das Licht ist so weit gedimmt, dass man die Bilder an den Wänden kaum erkennen kann. Oben unter dem Dach, wo ich sein Schlafzimmer vermute, ist es heller. »Warum haben Sie geglaubt, dass ich komme?«, frage ich.
»Nur so ein Gefühl«, erwidert er und schließt die schwere Tür. Sie fällt mit einem altertümlichen Geräusch, einem hohlen Dröhnen, ins Schloss. Es klingt wie das Schließen eines Grabmals. »Sie haben heute nachmittag auf der Terrasse nicht den Eindruck gemacht, als wollten Sie davon ablassen. Allerdings habe ich nicht so bald mit Ihnen gerechnet, schon gar nicht heute.«
Ich gehe hinüber zu dem gemauerten Kamin. Eine lange schwarze Ledercouch und drei große Sessel stehen u-förmig davor, in der Mitte ein Orientteppich. Für sich genommen sieht die Sitzgruppe überproportional groß aus, doch in diesem Raum, der die Ausmaße eines mittelalterlichen Saals hat, ist sie genau passend.
»Setzen Sie sich«, sagt er und knipst eine Lampe an.
Ich entscheide mich für einen der Sessel. Er setzt sich mir gegenüber auf die Couch, fährt sich durch das feuchte Haar und schaut mich geradeheraus an. Sein viereckiger, kräftiger Unterkiefer sieht aus wie aus Granit gemeißelt. Er strahlt eine ungeheure Kraft aus, und er wirkt – wie immer – selbstsicher, ein Mann, der nicht zögert, wenn es drauf ankommt. Ich trage noch, was ich den ganzen Tag über angehabt habe – Shorts, eine lange Weste und ein weißes gestricktes Top. Im Vergleich zu ihm – seiner maßgeschneiderten Hose und dem eleganten Hemd – fühle ich mich schlecht angezogen, schlampig. Geduldig wartet er darauf, dass ich etwas sage.
»Was ich gestern Abend gesehen habe«, bringe ich schließlich hervor, »hat mir gefallen. Ich weiß zwar nicht
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