Ausser Dienst - Eine Bilanz
Parteinahme für Israel verpflichtet sind. Wir Deutschen können beide Seiten nur enttäuschen. Im übrigen wird auch die Europäische Union zur Lösung der verwickelten Probleme des Mittleren Ostens kaum beitragen können. Sie sollte sich keine solchen machtpolitischen Ziele setzen.
Es wäre aber auch ein Fehler zu glauben, mit demonstrativer Zuneigung zum Staat Israel ließen sich auf Dauer auch die Probleme lösen, die in Deutschland selbst zwischen Juden und Deutschen bestehen. Es gibt an die 15 Millionen Juden auf der Welt – davon lebt mehr als ein Drittel in Israel–, und die Mehrheit aller Juden in Europa, in Israel und in Amerika beobachtet sorgfältig und sehr kritisch die Entwicklung in Deutschland. Viele glauben uns zwar, daß wir im Bewußtsein unserer Verantwortung dafür sorgen, keinerlei Antisemitismus und Atavismus in Deutschland wieder aufleben zu lassen. Aber nicht einmal wir selbst können uns in diesem Punkt absolut sicher fühlen, und darin liegt ein zusätzliches Dilemma.
Kein Volk ist vor gelegentlicher massenhafter Psychose und Hysterie gefeit – schon gar nicht wir Deutschen. In den siebziger Jahren hat uns der mörderische Terrorismus der RAF gezeigt, daß Haß nicht nur aus sozialem Elend und Unterdrückung entsteht, sondern auch aus ideologischer Verblendung. In den dreißiger Jahren war es ganz ähnlich gewesen. Mit der Suche nach Sündenböcken fing es an, es setzte sich fort mit der Verbrennung von Büchern, steigerte sich alsbald zur Gewalt gegen Sachen, dann gegen Menschen und endete schließlich im millionenfachen Mord. Begonnen hatte die tödliche Kette bereits mit den Morden an Liebknecht, Luxemburg, Erzberger und Rathenau. In meiner Zeit hat es abermals eine tödliche Kette gegeben, die mit dem Protest an einigen Universitäten begann und sich binnen weniger Jahre zu den ideologisch motivierten Mordtaten der Baader-Meinhof-Leute steigerte. Manch einer verspürte heimliche Sympathie.
Je mehr wir unser Geschichtsbewußtsein auf die Nazi-Zeit beschränken, auf den Fehlschlag des Weimarer Demokratie-Versuchs, auf den von Hitler ausgelösten Zweiten Weltkrieg und seine katastrophalen Folgen, je stärker wir uns auf den Holocaust und die übrigen Verbrechen der Nazi-Zeit konzentrieren, desto stärker reagieren wir Deutsche mit Nervosität und auch Angst auf Veränderungen. Noch in den fünfziger Jahren war den meisten Deutschen die Kernkraft als wünschenswert erschienen; einige Jahrzehnte später hat Deutschland als eines von wenigen Ländern aus Angst vor der Kernkraft den »Einstieg in den Ausstieg« beschlossen und hält bis heute daran fest, obgleich die Kernkraftwerke inzwischen aus Gründen, der Vernunft, nämlich aus ökologischen und ökonomischen Gründen, in aller Welt gebaut werden. Als in den späten sechziger Jahren in den USA viele Studenten wegen des Vietnam-Kriegs protestierten, setzten deutsche Jugendliche die Protestbewegung fort, weil sie eine »Rückkehr des Faschismus« befürchteten. Als in den siebziger Jahren der »Club of Rome« mit zwei Berichten ziemlich irrational das »Ende des Wachstums« verkündete, fand er nirgendwo mehr geängstigte Anhänger als bei uns Deutschen. In den achtziger Jahren protestierten Hunderttausende Deutsche zweimal gegen den NATO-Doppelbeschluß. Für die Zukunft ist nicht auszuschließen, daß eine andauernde hohe Massenarbeitslosigkeit, welcher der Gesetzgeber mit vernünftigen, jedoch unpopulären Arbeitsmarkt- oder sozialpolitischen Schritten zu begegnen sucht, abermals einen Nährboden für psychotische Reaktionen bieten kann, wie bereits 2003 die Ablehnung von Kanzler Schröders durchaus vernünftiger und notwendiger »Agenda 2010« gezeigt hat.
Ich bezweifle, daß es richtig und sinnvoll ist, den Unterricht an Schulen und Universitäten auf die Nazi-Zeit zu fokussieren; im Gegenteil, ich halte diese Art der Aufklärung eher für abträglich. Die Konzentration des Unterrichts auf die zwölfjährige Nazi-Diktatur führt zur Vernachlässigung der anderen Epochen der deutschen Geschichte. Vor allem aber wird den jungen Leuten, wenn auch ungewollt, der Eindruck vermittelt, vor den Nazis und auch danach sei bei uns alles ziemlich problemlos gewesen. Tatsächlich war aber der ideologische Boden schon lange vor 1933 bereitet. Die Erziehung hatte seit Generationen versagt, nämlich die Erziehung zur Würde und Freiheit der einzelnen Person, zur Humanitas, zur Demokratie.
Heute, wo soviel von der Reform unseres Bildungssystems
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