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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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die Rede ist, sollte dieser Aspekt der Erziehung, der Erziehung zum eigenen kritischen Urteil, viel mehr im Vordergrund stehen. Es reicht nicht aus, die Nachwachsenden für einen Beruf im Handwerk, in der Fabrik oder im Büro auszubilden oder ihnen Anglistik oder Maschinenbau, Medizin oder Betriebswirtschaft beizubringen. Vielmehr sollten Ausbilder, Lehrer und Professoren, unabhängig von ihrem Fach, immer wieder ein eigenes Beispiel dafür geben, daß die Freiheit in einer offenen Gesellschaft jedem einzelnen große Urteils- und Handlungsspielräume gewährt, daß es auf das eigene Urteil ankommt, daß es aber für jeden einzelnen wie für jede Gruppe moralische und rechtliche Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen.

Die Deutschen als Nachbarn
    Wir Deutschen sind in der Entwicklung unseres Nationalstaates um mehrere Jahrhunderte hinter den anderen großen europäischen Nationen zurückgeblieben. Stärker als alle anderen litten wir unter der religiösen Zweiteilung durch die Reformation und unter den zerstörerischen Folgen des Dreißigjährigen Krieges in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war Deutschland lediglich ein geographischer Begriff, zu definieren allenfalls durch die gemeinsame Sprache. Bis zur Reichsgründung durch Bismarck 1871 befaßten sich die Deutschen vornehmlich mit innerdeutschen Querelen und wurden deshalb immer wieder zum Spielball der Machtinteressen europäischer Staaten. Eine funktionstüchtige parlamentarische Demokratie gibt es in Deutschland – mit der auf ein einziges Jahrzehnt beschränkten Ausnahme in den Weimarer Jahren – erst seit 1949; und erst seit dem Oktober 1990 wird die gesamte Nation parlamentarisch-demokratisch regiert.
    Der kurze, aber verhängnisvolle Ausflug der Deutschen in die Weltpolitik dauerte gerade einmal ein halbes Jahrhundert. Der Exzeß begann in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Forderung nach einem »Platz an der Sonne«: Die Deutschen verlangten, bei der Verteilung der Kolonien berücksichtigt zu werden. Am Anfang standen die beiden leicht megalomanen Antreiber Alfred von Tirpitz und Wilhelm II.; von ihnen führte eine direkte Linie zum Größenwahn Adolf Hitlers. Die katastrophalen Folgen des von ihm provozierten – und im Fernen Osten fast gleichzeitig von der japanischen Militärkaste ins Werk gesetzten – Zweiten Weltkrieges haben die Deutschen gezwungenermaßen dazu gebracht, sich wieder auf ihre eigenen Angelegenheiten zu konzentrieren. Dies gelang ihnen vor dem Hintergrund des seit 1947 sich entfaltenden Kalten Krieges und der gleichzeitigen Zweiteilung Deutschlands, die eine Selbstbeschränkung der Deutschen notwendig machte. Während Walter Ulbricht und die kommunistischen Machthaber in der DDR zwangsläufig ausschließlich auf Moskau orientiert waren, hatten die westdeutschen Politiker, allen voran Adenauer und Schumacher, stets beide Pole im Visier: Washington und Moskau. Der Streit dieser beiden Führungspersonen drehte sich um die Einbettung Westdeutschland in den von Washington geförderten europäischen Integrationsprozeß. Während sich Schumacher weder auf Washington noch auf Moskau fixieren wollte, entschied Adenauer sich für die USA, die NATO und die westeuropäische Integration. Schumacher war menschlich unanfechtbar, aber die Geschichte hat Adenauer recht gegeben.
    Über der Frage des westdeutschen Beitritts zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (Non-Proliferation Treaty, NPT, auch Atomwaffensperrvertrag genannt), den Moskau und Washington gemeinsam entworfen und betrieben hatten, wuchs den Deutschen in den sechziger Jahren vorübergehend eine kleine Rolle in der Weltpolitik zu (in diesem Fall gab die spätere Geschichte den Bonner Sozialdemokraten recht). Erst in den siebziger Jahren wandte sich die Bonner Politik vorsichtig der Welt außerhalb des Ost-West-Konfliktes zu. Die Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China 1972 war ein allererster kleiner Schritt hinaus. Aber sowohl Willy Brandts Ostpolitik als auch die KSZE-Schlußkonferenz (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 1975 in Helsinki waren noch im Rahmen des Kalten Krieges um Entspannung bemüht; ebenso bewegten sich der NATO-Doppelbeschluß des Jahres 1979 und seine positiven weltpolitischen Folgen ab 1987 noch innerhalb der Zwänge des Ost-West-Konfliktes. Im Jahre 2003 spielte das vereinigte

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