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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Deutschland mit seiner Opposition gegen den von den USA geführten Irak-Krieg erstmals eine kleine weltpolitische Rolle; sie war freilich beschränkt und blieb ohne weitreichende Folgen.
    Mancher Beobachter schien zu glauben, daß Deutschland damit in die Weltpolitik zurückgekehrt sei, aus der es sich nach Hitler hatte verabschieden müssen. Es mag auch in Berlin heute den einen oder anderen Politiker und Diplomaten geben, dem die Teilnahme an der Weltpolitik wichtig ist. Tatsächlich hat sich die Welt seit der Jahrhundertwende aber grundlegend verändert, ohne daß die politische Klasse und die öffentliche Meinung in Deutschland sich dessen ausreichend bewußt geworden sind. Wenn einige deutsche Politiker und Diplomaten schon seit anderthalb Jahrzehnten danach streben, für Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu erringen, so sagt das viel über ihr Geltungsbedürfnis, verrät aber zugleich einen gravierenden Mangel an Augenmaß und eine Überschätzung der eigenen künftigen Reichweite.
    Wir sind zwar heute die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt (bald wird uns China überholen), aber es bleibt abzuwarten, ob unsere hohe Abhängigkeit vom Auf und Ab der Weltwirtschaft uns eine weltpolitische Rolle erlaubt oder ob unser hoher Anteil an der Weltwirtschaft uns eine auf dieses Feld beschränkte Rolle zuweist. Jedenfalls hat das politische Personal der Bundesrepublik auf den Feldern der Weltpolitik nur sehr geringe Erfahrungen. Unsere politische Klasse verfügt über keinerlei außenpolitische Traditionen, die über Europa hinausreichen. Wohl aber glauben einige Deutsche sich legitimiert, anderen großen Nationen und Staaten Lehren zu erteilen in Sachen der politischen Kultur, der Demokratie und Menschenrechte.
    Unser eigentliches außenpolitisches Feld liegt in Europa, nicht aber im Kaukasus, im Nahen und Mittleren Osten, nicht in Asien oder in Afrika. Es gibt ein vitales deutsches Interesse an der Festigung der Europäischen Union. Daß wir seit 1990 die überstürzte Erweiterung der EU von zwölf auf 27 Staaten (und demnächst noch mehr!) bedenkenlos mitgemacht haben, ohne daß vorher die internen Verfahrensregeln der EU geklärt und gestrafft worden sind, mag zwar manch einem als Erfolg von weltpolitischer Bedeutung erschienen sein. Tatsächlich aber hat die voreilige enorme Erweiterung einstweilen nur eine weitgehende Handlungsunfähigkeit der EU bewirkt. Gegen das Ende des 20. Jahrhunderts war die alte, aus zwölf Mitgliedsstaaten bestehend Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) weitaus homogener und weitaus handlungsfähiger als im Beginn des 21. Jahrhunderts die EU.
    Es wird in der näheren Zukunft keine eigenständige deutsche Rolle in der Weltpolitik geben. Ob und wann es zu einer eigenständigen Rolle der Europäischen Union kommen wird, bleibt einstweilen und noch auf lange Zeit fraglich. Ob der amerikanische Versuch, der Nordatlantischen Allianz und der NATO eine weit über Europa hinausragende Rolle zu geben, auf die Dauer sinnvoll ist, bleibt mindestens ebenso fraglich.
    Wir Deutschen können zur Stärkung Europas vor allem durch gutnachbarliche Beziehungen zu allen unseren Nachbarn beitragen. Hier liegen in den nächsten Jahrzehnten die überragenden Aufgaben deutscher Außenpolitik. Unser Feld ist nicht die Weltpolitik. Unser Feld sind unsere Nachbarn in Europa, mit denen wir in gutem Frieden leben wollen.
    Wenn Polen oder Franzosen, Holländer, Belgier oder Tschechen, Dänen, Norweger oder Italiener vor die Frage gestellt werden, ob denn die Deutschen aus ihrer Geschichte genug gelernt haben, dann fühlt sich manch einer unserer Nachbarn seiner Antwort nicht ganz sicher. Es liegt noch keine zwei Jahrzehnte zurück, daß eine englische Premierministerin – in Anlehnung an Churchill – gemeint hat, man habe die Deutschen entweder an der Gurgel oder zu Füßen. Es wird noch einige Generationen dauern, bis bei allen unseren Nachbarn die schrecklichen Erinnerungen an deutsche Eroberung und Besatzung verblassen. Die Erinnerung an Auschwitz und an den von den Deutschen unter Hitler verübten Holocaust an sechs Millionen Juden wird im Bewußtsein der Welt aber so wenig vergehen, wie das Wissen von der babylonischen Gefangenschaft der Juden unter Nebukadnezar vergangen ist.
    Für die uns benachbarten Nationen gilt, daß sie ihr Verhältnis zur jeweils anderen in erster Linie unter dem Aspekt ihrer eigenen Geschichte sehen. Die heute lebenden Deutschen wissen

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