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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Volkswirtschaft die Führung der EU anstrebt. Diese Warnung scheint mir dringend geboten, denn ein solcher Eindruck könnte den zur Zeit unwahrscheinlichen, aber dennoch denkbaren Zerfall der EU begünstigen. Falls die europäischen Nationen wieder auseinanderfallen sollten oder falls die Europäische Union von außen gespalten werden sollte, würden nicht nur einige der europäischen Nationalstaaten, sondern vornehmlich wir Deutschen darunter leiden. Eine auf gute Nachbarschaft und Kooperation mit allen Nachbarn orientierte deutsche auswärtige Politik würde dann sehr viel schwieriger werden als heute.
    Unter all unseren europäischen Nachbarn war es Frankreich, das nach Hitlers Weltkrieg als erstes Land uns Deutschen Zusammenarbeit und – später – Versöhnung angeboten hat. Auch die europäische Integration ist von Frankreich ausgegangen, von dort kamen immer wieder entscheidende Anstöße. Dies geschah weniger aus Idealismus im Sinne Victor Hugos, der schon 1849 die Einigung Europas gefordert hatte, sondern es lag vor allem im strategischen Interesse Frankreichs. Frankreich wollte – und will immer noch – Deutschland einbinden. Zugleich waren viele Franzosen sich schon früh darüber im klaren, daß die Einbindung Deutschlands nur dann dauerhaft gelingen kann, wenn Frankreich sich auch selbst einbindet. Wir Deutschen haben diese Zielsetzung akzeptiert und uns zu eigen gemacht. Dabei war es für mich immer selbstverständlich, auf der Weltbühne den Franzosen den Vortritt zu lassen (wobei ich die habituelle Würde, mit der die französischen Staatspräsidenten auf dieser Bühne agierten, immer positiv registriert habe).
    Frankreich ist sowohl aufgrund seiner geschichtlichen Rolle als auch entsprechend seiner heutigen politischen und ökonomischen Bedeutung zweifellos unser wichtigster Nachbar. Die Geschichte der französischen Nation reicht weit über ein Jahrtausend zurück, der französische Nationalstaat ist im Laufe vieler Jahrhunderte entstanden. Während die Territorien des »Römischen Reiches deutscher Nation«, die weit über den deutschen Sprachraum hinausreichten, jahrhundertelang Schauplatz der Machtkämpfe zwischen Kaiser und Papst waren und das deutsche Gebiet immer ein Tummelplatz der Rivalitäten zwischen ungezählten Herzögen, Kurfürsten, großen, kleinen und klitzekleinen Dynastien blieb, konnte sich Frankreich zu einem mächtigen und funktionstüchtigen Zentralstaat entwickeln. Seit Jahrhunderten ist Paris nicht nur das alleinige politische, sondern auch das kulturelle und ökonomische Zentrum der französischen Nation.
    Zwar hat auch Frankreich blutige religiöse Kämpfe erlebt. Aber anders als in Deutschland, wo sich die religiöse Spaltung bis tief in die Bismarck-Zeit negativ ausgewirkt hat, spielen die Bartholomäusnacht des Jahres 1572 und die anschließende Flucht Zehntausender protestantischer Hugenotten im Gedächtnis der Nation keine wichtige Rolle mehr. Noch zu Zeiten Wilhelms II. haben in Deutschland viele Menschen geglaubt, ihr Staat ruhe auf den beiden Säulen von »Thron und Altar«. Frankreich dagegen ist mindestens seit der Revolution von 1789 und der Herrschaft Napoleons ein säkularisierter Staat. Vorbei die Zeiten, in denen die Kardinäle Mazarin und Richelieu die politischen Geschäfte führten.
    Die Aufklärung hat in Frankreich kräftige Wurzeln, desgleichen das demokratische Prinzip. Beides hat sich positiv auf die Politik ausgewirkt. Zwar hat auch Frankreich tiefe Brüche in seiner politischen Entwicklung und in seiner Verfassungsgeschichte erlebt, aber insgesamt scheinen die Franzosen damit weit besser zurechtgekommen zu sein als die Deutschen mit ihren Umwälzungen. Vom Verlust der Kolonien abgesehen, den die Franzosen erst nach schweren, blutigen Opfergängen verwunden haben, ist die politische Geschichte Frankreichs glücklicher verlaufen als die unsrige.
    Auch deshalb ist es mir 1950 als unverdienter Glücksfall erschienen, daß Frankreich mit dem Schuman-Plan die europäische Integration unter Einschluß der damaligen Bundesrepublik Deutschland in Gang setzte. Abermals war es für mich ein unverdienter Glücksfall, als Charles de Gaulle dem deutschen Volk die Hand zur Versöhnung entgegenstreckte. Als er im September 1962 nach Hamburg kam, war ich als Innensenator zuständig für die Sicherheit. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, als de Gaulle aus dem Auto stieg und auf die Menge zuging und überall Hände schüttelte. Aufgrund seiner Körpergröße

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