Ausser Dienst - Eine Bilanz
relativ wenig von den Tragödien, die sich in unseren Nachbarländern abgespielt haben, weil sie überlagert sind von der Beschäftigung mit der Nazi-Herrschaft im eigenen Land und vom Zweiten Weltkrieg insgesamt. Für die meisten unserer Nachbarn stellt es sich jedoch anders dar: Weil wir Deutschen in ihrer Geschichte eine unrühmliche Rolle gespielt haben, begegnet man uns dort mit Argwohn. Ein Zwischenfall, ungeschicktes Auftreten oder provozierende Reden können das im kollektiven Gedächtnis der Nachbarn haftende negative Bild der Deutschen leicht wieder virulent werden lassen. Dann können alte Ängste beschworen – oder auch instrumentalisiert – werden. Es erscheint mir fraglich, daß die Mehrheit der Deutschen diesen Zusammenhang wirklich verstanden hat und daß unsere Politiker in ihrer Außen- und Europapolitik sich solcher Gefahren immer bewußt sind.
Wir Deutschen haben eine besonders große Zahl von unmittelbar benachbarten Nationen, nämlich neun. Neben den neun unmittelbaren Nachbarn müssen wir, wegen ihrer Rolle in der deutschen Geschichte, auch Italien, Schweden, Rußland und England als unsere Nachbarn ansehen. Auf der ganzen Welt sind nur die Großstaaten China, Rußland und Brasilien von ähnlich vielen Nachbarn umgeben. Uns Deutschen ist daher in einem ungewöhnlich hohen Maße die Kunst guter Nachbarschaft auferlegt.
In dieser Tatsache liegt eine andauernde Belastung. Wenn wir die europäische Geschichte der letzten eintausend Jahre überblicken, sehen wir einen ständigen Wechsel von zentrifugalen und zentripetalen Kräften. Zuzeiten stießen die Deutschen nach außen vor, nach Italien, ins Baltikum, später nach Frankreich; unter Hitler reichte der deutsche Machtbereich vom Nordkap bis Nordafrika, vom Atlantik bis an die Wolga. Zu anderen Zeiten stießen Stärkere in die Mitte des Kontinents vor, so die Ungarn, die Türken, die Schweden, so Napoleon – und schließlich die Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Den Frieden in Europa stabil zu halten ist vor allem eine deutsche Notwendigkeit. Die Aufgabe ist keineswegs unlösbar, auch wenn in unserer politischen Klasse, an unseren Schulen und Universitäten und nicht zuletzt in den Medien das Bewußtsein für diese Aufgabe wenig ausgeprägt zu sein scheint. Seit der Wiedervereinigung wird die Aufgabe zusätzlich erschwert, weil Deutschland mit über 80 Millionen Menschen in den Augen vieler Nachbarn unangenehm groß ist. Frankreich, England und Italien sind Staaten mit rund 60 Millionen Menschen; Deutschland hat doppelt so viele Einwohner wie Polen, fünfmal so viele wie Holland oder achtmal so viele wie die Tschechische Republik. Alle mit Ausnahme Englands erinnern sich an die Jahre, in denen sie einem übermächtigen deutschen Nachbarn ausgeliefert waren.
Es bleibt ein doppeltes Dilemma für alle Deutschen, insbesondere für unser außenpolitisches Führungspersonal, daß wir uns einerseits in der Mitte des europäischen Kontinents befinden und deshalb ungewöhnlich viele Nachbarn haben, daß wir andererseits aber der Zahl nach größer sind als jeder einzelne von ihnen. Wegen dieser zweifachen Erschwernis bleibt eine deutsche Politik der guten Nachbarschaft nach allen Seiten für eine unabsehbare Zukunft schwieriger und anspruchsvoller als für die anderen Nationen in Europa. Portugal beispielsweise hat nur einen Nachbarn, Norwegen hat drei. Selbst der Flächenstaat Frankreich hat nur fünf Nachbarn. England, seiner Insellage wegen, hat überhaupt keinen unmittelbaren Nachbarn, und die letzte überseeische Invasion liegt fast tausend Jahre zurück.
Größe kann Versuchungen zu Expansion oder Dominanz begünstigen. Deshalb kann Größe allein bei einem Nachbarn schon Argwohn und Ängste auslösen. Hinzu kommt bei vielen die böse Erinnerung an den Krieg und die Jahre der deutschen Besatzung. Aus dieser vielfach begründeten Sorge entstand der Wunsch, Deutschland wenigstens fest einzubinden, und so kam es in den fünfziger Jahren zur Strategie der europäischen Integration. Von der anderen Seite, vom deutschen Interesse aus betrachtet muß das vereinigte Deutschland außenpolitischstrategisch daran interessiert sein, sich inmitten seiner vielen Nachbarn nicht zu isolieren. Folglich sind wir auf den Bestand der Europäischen Union und auf unsere Zugehörigkeit angewiesen. Wir dürfen keineswegs den Anschein erwecken oder auch nur den Eindruck zulassen, als ob Deutschland mit Hilfe seiner großen und leistungsfähigen
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