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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Berufung sei mein Fehler gewesen, ist mir ebenso nahegegangen wie ihm. Wir sind gleichwohl gute Freunde geblieben und haben später in der ZEIT Seite an Seite gearbeitet. Aber meinen Fehler und die Kurt Becker dadurch zugefügte Verletzung habe ich natürlich nicht rückgängig machen können. So war es mit sämtlichen der hier dargelegten Irrtümer, Fehler und Versäumnissen: Keinen konnte ich korrigieren. Einige waren wenigstens so lehrreich, daß ich sie nicht wiederholt habe.

Sorgfältige Gewissensentscheidungen
    Ich will im folgenden einige Beispiele aus meiner politischen Erfahrung vortragen, aus denen das Spannungsfeld ersichtlich wird, in dem ein Politiker sich befindet, der einen politischen oder rechtlichen oder moralischen Konfliktfall zu entscheiden hat. In solchen Extremsituationen hilft ihm weder der Blick in das Grundgesetz noch seine Religion, weder irgendeine Philosophie noch die Berufung auf die Würde des Menschen. Es soll von drei Fällen die Rede sein, in denen viel Zeit zur Verfügung stand, die Entscheidung zu durchdenken und das Für und Wider sorgfältig abzuwägen.
    Eine der mich innerlich am stärksten bewegenden Debatten des Deutschen Bundestages befaßte sich mit der Frage der strafrechtlichen Verjährung im Mordfall. Das Thema beschäftigte den Bundestag von 1960 bis 1979 mehrere Male. Nach dem ursprünglichen Gesetz galt eine Verjährungsfrist von zwanzig Jahren. Aber schon Ende der fünfziger Jahre tauchte die für viele Menschen schwer erträgliche Vorstellung auf, daß nationalsozialistische Mordtaten erst nach Ablauf der Verjährung bekannt würden, die Täter dann aber nicht mehr bestraft werden könnten. Von 1960 an gab es mehrere Ansätze, die Verjährungsfrist zu unterbrechen oder sie gesetzlich zu verlängern. In den drei Fraktionen des damaligen Bundestages gab es dazu erhebliche Meinungsverschiedenheiten. So ging der Sozialdemokrat Adolf Arndt davon aus, ein einfaches Gesetz zur Verlängerung der Verjährungsfrist würde das Grundgesetz verletzen. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion ist ihm nicht gefolgt. Thomas Dehler und Ewald Bucher von der FDP, Richard Jäger, Adolf Süsterhenn und Max Güde von der CDU/CSU, die sich ebenfalls gegen die Rückwirkung einer Verlängerung wandten, konnten in ihren Fraktionen ebenfalls keine einheitliche Meinung herstellen. Wenngleich die Debatte 1965, 1969 und 1979 mit großem Ernst geführt wurde und das Parlament alle moralischen und verfassungsrechtlichen Aspekte auslotete, hat man sich nur zögernd und schrittweise zu einer Lösung durchgerungen.
    Als schließlich 1979 die Verjährung für Mord endgültig aufgehoben wurde, haben in allen drei Fraktionen Kollegen dafür und andere dagegen gestimmt. Ich selbst habe für die Aufhebung gestimmt. Zugleich bin ich aber dafür eingetreten, jedem Mitglied des Parlaments die Entscheidung persönlich anheimzustellen und keine Fraktionsdisziplin einzufordern. Aus Respekt vor der Gewissensentscheidung des einzelnen habe ich als Kanzler keineswegs eine einheitliche Meinung der Bundesregierung herbeizuführen versucht. Deshalb hat zum Beispiel der damalige Justizminister Hans-Jochen Vogel während der Plenardebatte ausdrücklich für seine Person als Abgeordneter und nicht in seiner amtlichen Funktion als Bundesminister das Wort ergriffen.
    Am Ende hatte sich der Entscheidungsprozeß –einschließlich mehrerer Zwischenstufen und Zwischenlösungen – über fast zwei Jahrzehnte erstreckt. Jeder Bundestagsabgeordnete hatte also viel Zeit und viele Möglichkeiten zur Abwägung gehabt, niemand stand unter zeitlichem Druck. Wer am Ende mit Ja stimmte, hat alle Zweifel gekannt, wer mit Nein stimmte, hat gleichfalls alle Zweifel gekannt. Jeder hat auch gewußt: Das Grundgesetz erlaubt sowohl ein Ja als auch ein Nein; und ebenso erlaubte die Religion sowohl ein Ja als auch ein Nein. So hat jeder für sich eine moralisch und rechtspolitisch höchst bedeutsame Entscheidung herbeigeführt. Heute, über ein Vierteljahrhundert später, ist sie nur noch rechtsgeschichtlich von Interesse.
    Mein nächstes Beispiel betrifft die in den späten sechziger Jahren die westdeutsche Öffentlichkeit, die Bundesregierung der Großen Koalition und den Bundestag umtreibende Frage: Soll die Bundesrepublik dem Vertrag über die Nichtverbreitung atomarer Waffen (Non-Proliferation Treaty, NPT) beitreten oder nicht? Es waren vornehmlich die USA, die uns zum Beitritt und damit zum Verzicht auf atomare Waffen drängten.

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