Ausser Dienst - Eine Bilanz
meine Regierung zwangsläufig geboten, solcher Zerfaserung der inneren und der auswärtigen Politik entgegenzutreten. Denn nicht nur die sowjetische Hochrüstung, sondern auch die Ende 1973 einsetzende Weltrezession bedrängten uns unmittelbar.
Trotzdem ist die gelegentlich heute noch zu lesende Behauptung Unfug, ich hätte mich mit meiner Partei überworfen – wie auch die andere Behauptung, ich sei zwar der richtige Mann gewesen, leider aber in der falschen Partei (ein vergiftetes Danaer-Geschenk einiger CDU-Leute, um mich in den Augen unserer eigenen Leute herabzusetzen). Daran ist nur zutreffend, daß ich mich oft auf eine Zustimmung in der öffentlichen Meinung stützen konnte, die weit über die Anhängerschaft der SPD hinausging. Aber tatsächlich bin ich immer Sozialdemokrat geblieben. Allerdings war ich im Laufe der späten siebziger und der frühen achtziger Jahre nur sehr eingeschränkt einverstanden mit den Wegen, auf denen eine Minderheit in meiner Partei sich bewegte, die dann im Laufe der achtziger und neunziger Jahre vorübergehend sogar zur Mehrheit wurde. Ich hätte mir ein höheres Maß an Staatsvernunft gewünscht, zumal an ökonomischer Vernunft.
In den späten neunziger Jahren hat mich dann befremdet, wie schnell ehemalige friedensbewegte Leute sich im Hinblick auf den Balkan zu »Bellizisten« wandeln konnten. Erst als sich Bundeskanzler Schröder 2003 einer Beteiligung an dem unsäglichen zweiten Irak-Krieg den USA verweigerte und die SPD ihm darin zustimmte (und er öffentlich einräumte, in Sachen NATO-Doppelbeschluß habe mir der spätere Gang der Ereignisse recht gegeben), habe ich mich wieder in innerer Übereinstimmung mit der Politik der Mehrheit meiner Partei gefunden.
Meine Vorbilder sind allerdings nie Karl Marx und Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg gewesen, sondern vielmehr Menschen wie Ernst Reuter, Wilhelm Kaisen und Max Brauer, Wilhelm Högner und Waldemar von Knoeringen, Fritz Erler und Heinz Kühn. Sie hatten klare Ziele und ein realistisches Urteil, was die nötigen Mittel und die gangbaren Wege betraf; sie konnten durch ihre Kunst des Argumentierens Mehrheiten überzeugen – und sie konnten darüber hinaus die Emotionen einer Masse von Zuhörenden ansprechen, sie in der Seele treffen. Diese Kunst beherrschte vor allem Willy Brandt meisterhaft. Auf ganz andere Weise auch Kurt Schumacher und Herbert Wehner. Dagegen bin ich selbst zwar ein guter Parlamentsredner und Debatter gewesen, aber meist habe ich versucht, mit Argumenten und mit Vernunft zu überzeugen – wenn nötig, mit einem gehörigen Schuß Polemik. Jedoch habe ich es nur selten vermocht, die Massenseele einer großen Versammlung in Bewegung zu bringen. Ich kann das auch nachträglich nicht als einen Fehler ansehen, wohl aber als ein politisches Manko.
In der hier versuchten Auflistung politischer Fehler, die ich mir selbst ankreiden muß, sind noch drei Fälle nachzutragen: ein Versäumnis, eine falsche Weichenstellung und eine nicht gründlich durchdachte Personalentscheidung.
Zunächst muß ich mir das Versäumnis eingestehen, in meiner Regierungszeit die bereits im Gang befindliche Überalterung und die tendenzielle Schrumpfung unserer Gesellschaft nicht erkannt zu haben. Der Rückgang der Geburtenraten ist objektiv bereits in den sechziger Jahren eingetreten. Bis in die siebziger und achtziger Jahre war das Problem jedoch überdeckt durch die Zuwanderung von vielen jungen Menschen aus der DDR und aus dem Ausland (vornehmlich aus dem europäischen Süden und aus der Türkei). Für die Regierungen Kohl und Schröder standen dann die gewichtigen Probleme der sozialökonomischen Vereinigung mit der DDR im Vordergrund. Die 2003 von Schröder verkündete »Agenda 2010« war schließlich der allererste, wenngleich noch unzureichende Schritt zur Überwindung der sozialpolitischen Folgen der Überalterung.
1976, zwei Jahre nach meiner Übernahme des Bundeskanzleramtes von Willy Brandt, hatte ich eine fehlerhafte Versprechung gemacht. Wir hatten zwar das Ausmaß der anstehenden Rentenerhöhung anhand der verfügbaren Prognosen und Formeln sorgfältig abgeschätzt. Alsbald aber stellten sich die Prognosen als zu optimistisch und tatsächlich als unzutreffend heraus. Wir mußten uns revidieren. Der daraufhin erhobene Vorwurf der »Rentenlüge« hat mich stärker getroffen als alle späteren Vorwürfe der Friedensbewegung. Zwar hatten wir gerechnet und nicht gelogen, aber das Ausmaß der Folgen der Weltrezession
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