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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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werden gern kassiert, jedoch außenpolitisch nicht honoriert.
    Das Gebot zur Zurückhaltung gilt besonders für den Nahen und Mittleren Osten. Unser Verhältnis zu Israel bleibt, wie ich oben ausgeführt habe, auf unabsehbare Zeit prekär. Daß wir uns 2003 der Beteiligung am Irak-Krieg verweigert haben, war völkerrechtlich und deshalb moralisch unanfechtbar; es hat uns vor der Verwicklung in eine politisch aussichtslose, blutige militärische Operation bewahrt. Die Verweigerung durch Kanzler Schröder lag gerade noch innerhalb der Grenzen deutscher Handlungsfreiheit. Dabei kam uns zugute, daß auch Paris eine Beteiligung ablehnte. Dagegen haben die damals von unserer Diplomatie im Rahmen der UN betriebenen antiamerikanischen Aktivitäten niemandem genützt, vielmehr haben sie unser wichtiges Verhältnis zur Supermacht Amerika unnötig belastet (hier hat Geltungsbedürfnis eine unangemessene Rolle gespielt).
    Im Falle der vom Sicherheitsrat der UN gebilligten und unter späterer Beteiligung der NATO erfolgten militärischen Intervention in Afghanistan war von vornherein zu erkennen, daß eine erfolgreiche und dauerhafte Ausschaltung der Terroristen sehr fraglich sein würde. Die deutsche Beteiligung war moralisch und völkerrechtlich in Ordnung, sie entsprach unserer Solidarität mit den Bündnispartnern. Gleichwohl hatte ich große Zweifel hinsichtlich der Zweckmäß igkeit der deutschen Beteiligung, und diese Zweifel sind inzwischen noch größ er geworden. Es ist sehr viel leichter, mit militärischer Gewalt in ein fremdes Land hineinzugehen, als mit Anstand wieder herauszukommen, ohne ein Chaos zu hinterlassen. Die USA haben diese Erfahrung in Vietnam gemacht, sie wiederholt sich heute im Irak. Wir machen dieselbe Erfahrung in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Sie kann sich in Afghanistan wiederholen – und abermals in dem ziemlich wahrscheinlichen Fall, daß al-Qaida nach Pakistan ausweicht und daß infolgedessen der Westen sich vor die Frage einer weiteren militärischen Intervention gestellt sieht. Sofern es wegen des dem Iran nachgesagten Strebens nach Atomwaffen zu einer militärischen Operation oder gar zu einem Krieg kommen sollte, möchte ich uns Deutschen dringend Vorsicht und Zurückhaltung ans Herz legen. Der Mittlere Osten ist die derzeit unruhigste und konfliktreichste Region der Welt. Wir Deutschen leben auf einem anderen Kontinent und haben im Mittleren Osten mit Ausnahme unserer Beteiligung an der globalen Öl-Nachfrage keine besonderen Interessen.
    Dagegen ist unser Interesse am Frieden zwischen der islamischen Weltreligion und der westlichen Welt grundlegend. Ein Fünftel der Menschheit bekennt sich zum Islam. Heute leben bereits über drei Millionen Muslime unter uns Deutschen, und ihre Zahl wird zunehmen; dazu werden sowohl der Wanderungsdruck aus dem Mittleren Osten und aus Afrika beitragen als auch die hohen Geburtenraten der zugewanderten Muslime. Heute leben in der EU fünfzehn Millionen Muslime, in Rußland weitere zwanzig Millionen. Weder hier noch dort ist bisher die Integration muslimischer Mitbürger ausreichend gelungen. Samuel Huntingtons Schlagwort vom clash of civilizations liegt ein gutes Jahrzehnt zurück. Manche hielten seine Prognosen für allzu pessimistisch, andere haben daraus sogar ein geostrategisches Konzept abgeleitet. Heute muß man die Möglichkeit eines weltweiten Konflikts zwischen dem Islam und dem Westen für denkbar halten. Ein solcher Konflikt könnte von Indonesien oder Pakistan und Afghanistan bis nach Algerien und Nigeria reichen und Rußland sowie den Balkan und die großen Städte in Europa einschließen. Religiöse Motive, sozialrevolutionäre Antriebe und machtpolitische Zielvorstellungen können sich vermischen – und ein zufälliges Ereignis kann solch ein Gemisch auf islamischer Seite schnell zur Explosion bringen. Aber die Explosion kann auch durch den Westen, durch die USA oder Israel ausgelöst werden.
    Niemand kann die historisch gewachsene Siedlung der Muslime in Rußland und auf der Balkan-Halbinsel rückgängig machen. Auch die muslimische Zuwanderung, ob nach Dänemark, England, Frankreich, Holland oder Deutschland, ist eine unumkehrbare Tatsache. Deshalb müssen wir in jedem Einzelfall sehr genau prüfen, ob es wirklich in unserem Interesse liegt, uns an militärischen Interventionen in muslimisch geprägten Staaten und Regionen zu beteiligen; Bosnien, Kosovo, Afghanistan, die Küsten des Libanon und das Horn von Afrika – diese Kette ist

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