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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Unglück, aber es würde nicht notwendig zum Zerfall der EU führen. Wahrscheinlich würde sich im Laufe von Jahren ein innerer Kern von Staaten herausbilden, die sich zu einer weitergehenden Kooperation entschließen, als dies innerhalb der Gesamtheit der Mitgliedsstaaten möglich ist. Auch bei allseitiger Ratifizierung des Lissaboner Vertrages kann dessen Unzulänglichkeit zur Bildung eines handlungsfähigen inneren Kerns führen. Gewißwürde in einem solchen Fall Deutschland zum inneren Kern gehören wollen. Jedenfalls hoffe ich das. Wir sind zum einen wegen unserer jüngeren Geschichte, zum anderen wegen unserer unbequemen Lage im Zentrum des Kontinents auf die Integration Europas stärker angewiesen als die meisten anderen europäischen Staaten.
    Sollte es bei der Integration der 27 Mitgliedsstaaten keine Fortschritte geben und die institutionelle Stagnation anhalten – möglicherweise sogar verstärkt durch eine abermals voreilige Aufnahme weiterer osteuropäischer Staaten wie der Ukraine oder Georgien und Armenien, dazu der Türkei und anderer nichteuropäischer Staaten–, könnte die EU aber auch zu einer bloßen Freihandelszone verkommen. Je größer die Zahl der Mitgliedsstaaten wird und je heterogener ihre Interessen und Ziele, desto schwieriger wird die politische Kooperation – zumal im Verhältnis zu Rußland, zu den USA und zu den Staaten im Mittleren Osten. In einer solchen Situation wäre die Abschaffung gegenseitiger Zollschranken ein realistisches Minimalziel; alles, was darüber hinausgeht, bliebe Illusion.
    Die hegemonial und imperialistisch gesinnten Kräfte in der amerikanischen politischen Klasse würden einen derartigen Verfall der Europäischen Union begrüßen. Sie haben schon bisher einen starken Einfluß zugunsten schneller Erweiterung ausgeübt. Ein handlungsfähiges und starkes Europa läge quer zu ihren strategischen Vorstellungen von der Ordnung und Kontrolle der Welt, die in ihren Augen allein durch die Supermacht USA ausgeübt werden kann. Immerhin hat am Beginn des 21. Jahrhunderts der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld den Versuch unternommen, die EU geostrategisch in ein »neues« und ein »altes« Europa aufzuspalten. Es blieb einstweilen beim bloß verbalen Versuch, aber dergleichen könnte sich wiederholen. Zum Glück gibt es in der amerikanischen Gesellschaft jedoch auch starke Kräfte, denen die zivilisatorischen (oder nach deutschem Sprachgebrauch: die kulturellen) Gemeinsamkeiten zwischen Amerikanern und Europäern als bedeutsamer Wert bewußt sind und die deshalb Europa gegenüber nicht in überwiegend hegemonialen Kategorien denken.
    Während des langen Kalten Kriegs haben es die USA für selbstverständlich gehalten, sich als Schutzmacht der Europäer zu fühlen und mit Hilfe ihrer Führungs- und Kommandogewalt in der NATO die Staaten Westeuropas zu dirigieren. Diese amerikanische Denktradition hat sich trotz des abweichenden Verhaltens einiger EU-Staaten während des Irakkrieges fortgesetzt. Im Falle einer inneren Schwächung der EU würde Amerika, um seinen Vormachtsanspruch über Europa zu sichern, auf jeden Fall die gemeinsame nordatlantische militärische und diplomatische Führungsstruktur in Gestalt der NATO aufrechterhalten wollen.
    Der englischen Regierung und der Mehrheit des englischen Volkes wäre das recht. Auf der Insel ist man mit dem gegenwärtigen Zustand der EU und ihrer Handlungsunfähigkeit durchaus zufrieden, die Anlehnung an die USA ist den Engländern seit Generationen selbstverständlich. Eine gesamteuropäische Freihandelszone wäre ihnen wahrscheinlich genug, zumal diese ihren eigenen Handlungsspielraum nur unwesentlich einschränken würde. Ähnlich würden es wahrscheinlich viele Menschen im Osten Mitteleuropas sehen. Den meisten Polen ist Amerika immer schon – und zumal unter der sowjetischen Vorherrschaft – als Hort der Freiheit erschienen.
    Für die Franzosen wäre eine anhaltende Stagnation der Integration dagegen ein erhebliches Dilemma. Zu Zeiten von de Gaulle, Pompidou, Giscard d’Estaing oder François Mitterrand hat Frankreich die europäische Integration als strategische Notwendigkeit zur Einbindung Deutschlands aufgefaßt. Die meisten Fortschritte im europäischen Einigungsprozeß gehen auf französische Initiativen zurück, von Robert Schuman und Jean Monnet bis zu Jacques Delors. Zugleich hielt man seit de Gaulle Abstand von den USA und von der NATO, obgleich Frankreich damals zu seiner militärischen

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