Ausser Dienst - Eine Bilanz
Verteidigung gegen etwaige sowjetische Aggression auf beide angewiesen war. Zwanzig Jahre nach dem Wegfall dieser Bedrohung sind in Frankreich erstmalig Tendenzen zur engeren Anlehnung an die USA und zur Rückkehr in die NATO zu spüren. Auch haben die früheren französischen Bemühungen, den Integrationsprozeß innerhalb der EU voranzutreiben, bereits während der Ära Chirac kaum noch Fortsetzungen gefunden. Dazu kam 2005 der negative Ausgang der Volksabstimmung (Referendum genannt) über das Projekt eines europäischen Verfassungsvertrags. Es ist daher denkbar geworden, daß selbst Frankreich sich mit der Reduzierung der EU auf eine Freihandelszone abfinden und nur in einigen nicht allzu wichtigen Institutionen am Rande noch mitwirken wird. Aus deutschem Interesse wäre dagegen zu wünschen, daß die Franzosen sich im Notfall an der gleichzeitigen Herausbildung eines kooperativen inneren Kerns der EU beteiligen.
Aus den seit der großen Erweiterung der EU zunehmend divergierenden Tendenzen in England, Frankreich, Polen und anderen der EU erst jüngst beigetretenen Nationen können sich also für die Zukunft der Union bisher unerwartete Probleme ergeben. Dazu sind einige Erwägungen über die künftigen sicherheitspolitischen und militärischen Interessen Europas nötig.
Ganz anders als im 20. Jahrhundert erscheint Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts den meisten als ein friedlicher Kontinent. Ein innereuropäischer Krieg ist für die meisten Menschen undenkbar geworden. Auch eine etwaige militärische Bedrohung der europäischen Nationen durch einen fremden Staat will mir äußerst unwahrscheinlich vorkommen. Von Rußland geht seit dem Ende der Sowjetunion keine Gefahr aus, das heutige Rußland erscheint friedlicher und weniger imperialistisch als jemals in seiner Geschichte. China hat uns noch nie bedroht. Und Amerika ist unser übermächtiger Verbündeter. Die auf die beiden Pole Moskau und Washington reduzierte bipolare Machtkonstellation der Welt ist verschwunden; inzwischen steigen China und Indien zu Weltmächten auf, vielleicht später auch Brasilien und Mexiko – aber sie bedrohen den Frieden Europas in keiner Weise.
Allerdings gibt es in anderen Kontinenten gefährliche Konflikte, dort sind mancherlei kriegerische Auseinandersetzungen zu befürchten. Falls die Europäer sich an solchen außereuropäischen Konflikten beteiligen, kann davon auch eine militärische Bedrohung der europäischen Staaten selbst ausgehen. Eine solche Beteiligung, beispielsweise unter amerikanischer Führung, ist auch in Zukunft nicht auszuschließen – das bezeugen Irak oder Afghanistan und viele sogenannte friedenschaffende und friedenerhaltende internationale Interventionen in anderen Erdteilen.
Zu den Ausnahmen, die das Bild von einem friedlichen Europa trüben, gehören die ungelösten Konflikte auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien; dazu könnten denkbare Konflikte zwischen Staaten gehören, die ehemals Teil der Sowjetunion waren. Falls sich aus einer generellen Konfrontation zwischen den westlichen und den islamischen Kulturen auch militärische Konflikte ergeben, wird Europa ebenfalls einbezogen sein. Vom islamistischen Terrorismus gehen schon heute mancherlei Gefährdungen auch für Europa aus.
Eine der wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang lautet: Was ist in der globalen Machtkonstellation des beginnenden 21. Jahrhunderts die Aufgabe unserer Soldaten? Bis zur weltpolitischen Wende Ende der achtziger Jahre war die Aufgabe der Bundeswehr eindeutig und klar. Der fast nahtlose Übergang vom Zweiten Weltkrieg in den Kalten Krieg und die bedrohliche sowjetische Rüstung hatten gegen Ende der vierziger Jahre das atlantische Bündnis notwendig gemacht. Wegen seiner zahlenmäßig eindeutigen Unterlegenheit mußte sich der Westen damals darauf verlassen, daß seine Drohung mit atomarer »Vergeltung« die Sowjetunion von einem Übergriff oder Angriff abschreckte. Alsbald wollte man aber die zahlenmäßige Unterlegenheit wenigstens zum Teil ausgleichen, deshalb verlangten die Westmächte nach einem Verteidigungsbeitrag Westdeutschlands. Deshalb wurde die Bundeswehr aufgebaut. Die Bundesrepublik wurde in das Nordatlantische Bündnis aufgenommen, und ihre Streitkräfte wurden dem Kommando-Gefüge der NATO unterstellt. Nach der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts in der Kuba-Raketenkrise des Jahres 1962 setzte sich im Westen schrittweise die Erkenntnis durch, daß der Frieden nicht durch eine nukleare Vergeltungsdrohung
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