Ausser Dienst - Eine Bilanz
(sogenannter Zweitschlag), die einen atomaren Weltkrieg riskierte, sondern nur durch ein Gleichgewicht der Streitkräfte zu wahren war.
Die westdeutsche politische Klasse hat an diesem strategischen Wandel aktiv mitgewirkt. Ich selber hatte bereits 1959 das Konzept der Abschreckung durch die Drohung mit atomarer »Vergeltung« in Zweifel gezogen. Später setzte ich mich dann für eine »Strategie des Gleichgewichts« ein (so der Titel meines 1969 erschienenen Buches). Damit war gemeint: Gleichgewicht sowohl der normalen (»konventionellen«) Streitkräfte durch vereinbarte Rüstungsbegrenzung als auch Gleichgewicht der atomaren Bewaffnung.
Auch die sowjetische Führung öffnete sich dem Gleichgewichtsprinzip. Der Atomwaffensperrvertrag (NPT) und später die Verträge über das Verbot von Anti-Raketen (ABM) und von Raketen innereuropäischer Reichweiten (IBM) waren Ergebnisse der von beiden Seiten betriebenen Gleichgewichtsstrategie. Sie hat, trotz mancher Krisen, den weltweiten Frieden zwischen Ost und West bewahren können. Bis in die neunziger Jahre waren die westlichen Verteidigungsanstrengungen im Rahmen der gewaltigen militärischen Organisation NATO notwendig – und deshalb auch die deutsche Bundeswehr.
Heute hat die ehemals bedrohliche Sowjetunion in Rußland einen Nachfolger gefunden, der weder für die USA noch für Europa eine Bedrohung darstellt – auch wenn einige Amerikaner und viele Polen das immer noch glauben wollen. Die einstmals bedrohliche militärische Organisation des Warschauer Paktes ist völlig verschwunden. Rußland ist heute eine Respekt gebietende Weltmacht, aber keine weit ausgreifende militärische Supermacht. Auf westlicher Seite hingegen hat sich wenig geändert, der Nordatlantik-Pakt und die NATO sind nach wie vor funktionstüchtig. Beide haben sogar durch die Aufnahme einer Reihe von Staaten im Osten Mitteleuropas ihr Territorium bis an die russischen Grenzen verschoben; davon geht für Rußland zwar keine Gefahr aus, wohl aber muß eine russische Regierung diesen Tatbestand mindestens als bedenklich empfinden.
Die NATO, ihre Generale, Diplomaten und Beamten sind der Versuchung ausgesetzt, das Bündnis als Selbstzweck zu betrachten. Manche von ihnen sprechen von einer »neuen NATO«. Was aber soll im 21. Jahrhundert die tatsächliche Aufgabe der NATO sein? Aus amerikanischer Sicht erscheint es nützlich, wenn Washington mit Hilfe seines politischen und militärischen Übergewichts innerhalb des Nordatlantik-Paktes die NATO, den NATO-Rat und deren Generalsekretär auch künftig als Instrumente seiner Weltpolitik und jedenfalls zur Kontrolle der europäischen Mitgliedsstaaten nutzen kann. Daß die Europäische Union nicht als Einheit Mitglied des Bündnisses ist, sondern die europäischen Staaten einzeln in der NATO vertreten sind und dort nicht mit einer Stimme sprechen, erleichtert den USA, ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. An Versuchen Washingtons, die NATO zum Instrument einer amerikanischen Weltordnungstruppe zu machen, sollten wir jedenfalls nicht mitwirken.
Aus der Sicht der Europäer werden sich zunehmend Zweifel an manchen Aspekten der amerikanischen Weltpolitik einstellen. Auf Unverständnis stieß 2002 die offizielle strategische Erklärung der USA, sich auf einen präventiven und sogar präemptiven Krieg vorzubereiten (präemptiv bedeutet vorwegnehmend). Das Unverständnis stieg mit dem von Bush jun. gewollten Einmarsch im Irak. Damals spalteten sich die Mitglieder der EU und der NATO in zwei Lager. Weitere Fälle könnten folgen, in denen eine Reihe europäischer Nationen geostrategische Entscheidungen der USA nicht wird mittragen wollen. Gleichwohl wird das Atlantische Bündnis erhalten bleiben, wenn auch dessen Organ NATO zunehmend seine weltpolitische Bedeutung verlieren kann. Für uns Deutsche bliebe ein Bedeutungsverlust der NATO ohne strategische Folgen; denn ein militärischer Angriff auf unser Land oder auch nur eine militärische Pression ist sehr unwahrscheinlich geworden.
Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts begann sich weltweit eine Tendenz zur militärischen Intervention in Bürgerkriege innerhalb souveräner Staaten (oder in Territorien zerfallender Staaten) abzuzeichnen. Das hatte erhebliche Auswirkungen auch auf die deutschen Streitkräfte und wird uns auch in Zukunft immer wieder stark beschäftigen. Den meisten der sogenannten »humanitären« Interventionen liegen Beschlüsse des Sicherheitsrats der UN zugrunde; Deutschland hat sich in
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