Ausser Dienst - Eine Bilanz
Kontinent hat eine große Zahl von Nationalstaaten sich aus freiem Willen zusammengeschlossen und auf Teile ihrer Souveränität verzichtet. Dabei hat keine Nation ihre Sprache oder ihre nationale Identität aufgegeben; manche alten Feindschaften, viele Verletzungen und auch einige nationale Eitelkeiten wurden hintangestellt.
Als 1946 Winston Churchill den Franzosen vorschlug, gemeinsam mit den Deutschen (aber ohne England) die »Vereinigten Staaten von Europa« zu gründen, war er zunächst nur ein einsamer Rufer in der Wüste des vom Krieg zerstörten Kontinents. Ein halbes Jahrzehnt später wurde auf französische Initiative die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begründet. Diese Montanunion erweist sich im Rückblick als erster Kern des europäischen Einigungsprozesses, denn aus ihr hat sich alsbald die Idee eines gemeinsamen Marktes auch für alle anderen Güter entwickelt. Zwei Jahrzehnte lang haben die sechs Gründungsstaaten gelernt zusammenzuarbeiten. Die von ihnen als gefährlich empfundene Bedrohung durch die hochgerüstete und expansive Sowjetunion und der Kalte Krieg zwischen Ost und West haben dazu beigetragen, daß die Regierungen der sechs Staaten – Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Luxemburg und die Bundesrepublik – alle Krisen der Zusammenarbeit über winden und schrittweise den gemeinsamen Markt verwirklichen konnten.
Das Prinzip der schrittweisen Integration, das wir vor allem Jean Monnet verdanken (die Europäer sollten ihm ein Denkmal errichten!), hat sich bei der Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bewährt. In den siebziger Jahren traten England, Irland und Dänemark bei; ein Jahrzehnt später kamen Griechenland, Spanien und Portugal hinzu, in den neunziger Jahren Schweden, Finnland und Österreich. Immer noch galt für alle wichtigen Entscheidungen das Prinzip der Einstimmigkeit. Es hat einerseits durch den daraus folgenden Zwang zu allseits akzeptierten Kompromissen geholfen, Krisen zu überwinden. Andererseits hat sich die Regel der Einstimmigkeit wegen der wachsenden Zahl der Mitgliedsstaaten zunehmend als Hindernis erwiesen. Spätestens auf der Maastrichter Konferenz 1991 hätten die internen Spielregeln geändert werden müssen. Damals waren wir noch zwölf Mitgliedsstaaten, beabsichtigten aber eine enorme Erweiterung. Heute hat die Europäische Union 27 Mitgliedsstaaten, und auf mehr als 70 Sachgebieten gilt ausdrücklich das Prinzip der Einstimmigkeit. Das bedeutet: Jeder der 27 Staaten hat auf über 70 Feldern ein Veto-Recht.
Dieser Umstand, den die in Maastricht versammelten Politiker grandios ignoriert haben, hat zwei höchst unerfreuliche Konsequenzen: Einerseits bewirkt er eine tiefgreifende Handlungsunfähigkeit, andererseits führt er dazu, daß sowohl die Kommission in Brüssel als auch alle Ministerräte ihre Aktivitäten auf relativ zweitrangige und sogar auf unwichtige Nebengebiete konzentrieren, was eine unüberschaubare Flut von bürokratischen Detailregelungen zur Folge hat. Der von Washington gewollte Irakkrieg hat 2003 jedermann die Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union in drastischer Weise erkennen lassen: Mehrere Mitgliedsstaaten beteiligten sich an dem Krieg, andere Mitgliedsstaaten verweigerten sich. Eine »gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«, über die einige europäische Außenminister in visionären Sonntagsreden geschwatzt haben, ist in Wahrheit nicht vorhanden. Ob sie jemals zustande kommt, ist zweifelhaft. Denn auch der 2007 paraphierte Vertrag von Lissabon kann keine Gemeinsamkeit des Handelns erzwingen. Einstweilen hat die Welt mit 27 verschiedenen europäischen Außenministern zu tun, dazu mit einem häufig wechselnden EU-Ratspräsidenten. Immerhin stellt die EU keine Bedrohung für andere dar, niemand muß sich heute vor der EU fürchten. Es ist durchaus möglich, daß die EU auf einigen Teilgebieten der im 21. Jahrhundert neu auftretenden Herausforderungen zu gemeinsamem Handeln gelangen wird, vermutlich am ehesten auf ökonomischem Gebiet. Eine Weltmacht aber wird die Europäische Union auf lange Zeit nicht sein.
Seit ihrer Erweiterung um 15 neue Mitglieder in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges befindet sich die EU in einer konstitutionellen Krise. Eine Lösung braucht Zeit. Sie wird das Einstimmigkeitsprinzip nicht beseitigen, sondern bestenfalls dessen Auswirkungen ein wenig einschränken. Mit Sicherheit werden aber sowohl der gemeinsame
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