Ausser Dienst - Eine Bilanz
einmal die Europäische Union wird Weltmacht werden. Deshalb sollten wir Deutschen uns deutlich zurückhalten, wenn in anderen Kontinenten Streitigkeiten entstehen, gar ein clash of civilizations oder ein »heiliger Krieg« propagiert wird. Unser Feld ist nicht die Weltpolitik, unser außenpolitisches Feld liegt in Europa.
V
DEUTSCHLAND MUSS
SICH ÄNDERN
Alte Strukturen - neue Probleme
Die deutsche Wirtschaft ist, wie bereits erwähnt, unter den großen Staaten der Welt bei weitem am stärksten in die Weltwirtschaft verwoben – fünfmal so stark wie die USA, mehr als dreimal so stark wie Japan und immer noch stärker als China. Weil aber den meisten der Überblick fehlt, läßt sich die öffentliche Meinung hierzulande leicht von angeblichen Patentrezepten blenden. Sie zeigt sich auch leicht verführbar durch simple Verneinungsparolen: »Gegen die Globalisierung«, »Gegen das chinesische Lohndumping«, »Gegen den Sozialabbau«, »Gegen die Kernkraft«, »Gegen die Ölkonzerne«, »Gegen die Multis«. Weil ich derartige Psychosen für schädlich halte, mache ich in diesem Kapitel den Versuch, in groben Zügen einige der ökonomischen Erfahrungen und Einsichten darzulegen, die ich im Laufe meines politischen Lebens gewonnen habe. Dabei hatte ich das Glück, in unterschiedlichen Aufgaben und Ämtern schon früh gezwungen gewesen zu sein, mich ständig mit weltwirtschaftlichen Entwicklungen zu befassen; dieser Lernprozeß hat mir später einen kleinen Vorsprung vor manchen meiner Kollegen verschafft. Die meisten Politiker hatten und haben diese Chance nicht – oder sie suchen sie nicht. Das letztere halte ich für einen Fehler, denn nur bei Kenntnis sozialer und ökonomischer Zusammenhänge ist es möglich, vernünftige politische Entscheidungen zu treffen.
Wer in die Politik gehen will, soll einen Beruf gelernt und ausgeübt haben; er soll die tragenden Elemente des Grundgesetzes verinnerlicht haben; er soll die Geschichte Deutschlands und die unserer wichtigsten Nachbarn kennen; und er soll sich auf mindestens einem Fachgebiet als Experte einarbeiten: Diese Kenntnisse und Fähigkeiten habe ich am Anfang dieses Buches als Mindestvoraussetzungen für einen Berufspolitiker aufgeführt. Eigentlich hätte dort jedoch auch ein gewisses ökonomisches Grundverständnis als Mindestvoraussetzung genannt werden müssen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß die Thematik für die Mehrheit der Politiker ebenso schwer zugänglich ist wie für die Allgemeinheit. Den meisten Politikern bleiben die ökonomischen Zusammenhänge auch bei langer politischer Betätigung ziemlich verschlossen. Die Wirtschaft ist komplex und das Erkennen und Verstehen von Wirkungszusammenhängen schwierig. Mangel an ökonomischem Überblick findet man allerdings nicht nur bei Politikern, sogar bei Staatspräsidenten und Regierungschefs, sondern auch bei manchen Wirtschaftsführern. Viele agieren auf diesem Feld mehr aufgrund von Interessen, auch von Hoffnungen und Gesinnung als aufgrund eigener Urteilskraft, ihr tatsächliches Handeln steht oft unter dem starken Einfluß fachlicher Berater.
Die öffentliche und die veröffentlichte Meinung konzentrieren ihre Aufmerksamkeit und ihre Kritik fast immer auf einzelne ökonomische Probleme, auf einzelne Firmen, einzelne Wirtschaftszweige oder bestimmte Mißstände. Dabei bleiben die Zusammenhänge und die wechselseitigen Abhängigkeiten zumeist außerhalb der Betrachtung. Besonders die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung des eigenen Landes von den Entwicklungen der Weltwirtschaft wird weitgehend ignoriert; deren Beschreibung findet bestenfalls in Fachblättern statt, die aber nur von Fachleuten verstanden werden.
Vergleichsweise noch am leichtesten erschließt sich den Politikern das Feld des Staatshaushalts. Der enge Zusammenhang des Staatshaushalts mit dem Wachstum des Sozialprodukts und des Volkseinkommens wird nur ungern zur Kenntnis genommen. Auch liegt es in der Natur der Spezialisierung, daß die Politikereines Fachgebietes fast immer vornehmlich die Ausweitung ihres eigenen Haushalts im Blick haben: Die sozialpolitisch engagierten, die verkehrspolitisch engagierten, die verteidigungspolitisch engagierten, die wissenschafts- und bildungspolitisch engagierten Abgeordneten und Minister, sie alle wollen in der Regel mehr Geld für ihren speziellen Bereich. In den meisten Regierungen ist der Finanzminister der einzige, der den öffentlichen Gesamthaushalt des Staates in ökonomisch
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