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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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abgelöst. Wenn heute Frankreich und Deutschland versuchen, die von den USA betriebene Ausdehnung der NATO-Mitgliedschaft auf die Ukraine und auf Georgien südlich des Kaukasus zeitlich hinauszuzögern, so liegt dem die Hoffnung zugrunde, ein späterer Präsident in Washington werde auf diesen Schritt verzichten; denn er ist keineswegs von westlichen Sicherheitsinteressen motiviert, wohl aber muß er in Moskau Verbitterung und neue Spannungen auslösen.
    Wie lange auch immer eine Revision der heutigen expansiven Strategie Amerikas auf sich warten läßt, in jedem Fall dürfen wir davon ausgehen, daß das Schwergewicht der amerikanischen Politik sich im Laufe einiger Jahrzehnte von der Außenpolitik auf die Innenpolitik verschieben wird. Gegen Mitte des 21. Jahrhunderts werden Afro-Americans und Hispanics (Latinos) zusammen ein entscheidendes Gewicht unter den amerikanischen Wählern haben. Weil sie die Masse der sozialen Unterschichten darstellen, wird ihr Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit gewichtiger werden als das Verlangen anderer amerikanischer Bürger nach weltweiter Dominanz. Langfristig ist schon allein deshalb eine Kurskorrektur der gegenwärtigen Außenpolitik der USA zu erwarten. Bis dahin werden wir handlungsunfähigen Europäer uns den übermächtigen USA weitgehend zu fügen haben; inzwischen selbstsichere Regierungen wie die der wirtschaftlich erstarkten Weltmächte China und Indien werden jedoch die Weltlage verändern. Auf Dauer jedenfalls wird die Aufrechterhaltung eines mit Hilfe der NATO ausgeübten Machtmonopols der USA ziemlich unwahrscheinlich.
    Zunächst könnte es ein wichtiger Schritt in Richtung auf Stabilität – und Humanität! –sein, den Gedanken eines weltweiten Vertrags auf die Tagesordnung zu setzen, der den Export von Waffen einschränkt und insbesondere die internationale Verbreitung von sogenannten Kleinwaffen (Maschinenpistolen, Handfeuerwaffen, Handgranaten und Landminen) unterbindet. Die Mehrzahl der Menschen, die in regionalen Kriegen, durch Aufstände, Bürgerkriege und durch Terroristen jedes Jahr getötet werden, stirbt durch importierte Kleinwaffen. Deutschland sollte hier mit gutem Beispiel vorangehen. Unsere Volkswirtschaft und unsere Zahlungsbilanz sind nicht auf Waffenexporte angewiesen. Zumindest wäre zu wünschen, daß wir die Richtlinien für unseren Waffenexport wesentlich enger fassen. Gegenwärtig sind unsere Waffenexporte von erheblichem Umfang; in den Jahren nach der deutschen Vereinigung wurden große Mengen an überflüssig gewordenen Waffen ins Ausland verkauft, so daß Deutschland vorübergehend sogar zum drittgröß ten Waffenexporteur der Welt wurde.
    Bisher hat der im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in anderen Teilen der Welt sich ausbreitende Terrorismus nur Kleinwaffen und Explosivstoffe zur Verfügung gehabt und benutzt. Solange die angegriffenen Völker und Staaten glauben, den Terrorismus vornehmlich mit Kriegsgerät und durch militärische Operationen unterdrücken und die Terroristen so von weiteren Anschlägen abhalten zu können, drehen sie nur weiter an der Spirale der Gewalt. Der Nahe Osten bietet uns seit vielen Jahren erschütternde Beispiele einer sich immer wiederholenden Kette von Schlägen und Gegenschlägen.
    Ich möchte sehr wünschen, daß es meinem Land gelingt, auch nach außen als die friedliche Nation zu erscheinen, die wir im Innern doch endlich und tatsächlich geworden sind. So sehr ich in den Jahrzehnten der expansiven sowjetischen Bedrohung für ein Gleichgewicht der Rüstung zwischen Ost und West und für beisderseitige Rüstungsbegrenzung eingetreten bin und so wenig ich jemals Pazifist war, so eindeutig erkenne ich die heutigen, sehr andersartigen Gefahren für den Frieden. Vornehmlich in den USA, im Nahen und im Mittleren Osten, aber auch in einigen anderen Staaten Asiens sehe ich Wucherungen eines militärischen Denkens, das zu sinnlosen und gefährlichen Rüstungsprogram men führt. Wir Deutschen sollten uns von keiner Sicherheitshysterie anstecken lassen.
    Es dient unserem Interesse, die Partnerschaft mit Amerika aufrechtzuerhalten und zu pflegen. Dabei wird unser Einfluß auf die Politik der USA nur begrenzt sein. Aber von einer Einteilung der Staaten der Welt in Gute und in »Schurken«, von einem allgemeinen »Krieg gegen den Terrorismus«, von Drohungen und Rüstungswettläufen müssen wir uns distanzieren. Deutschland ist keine Weltmacht, wir wollen auch nicht Weltmacht werden – nicht

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