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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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für denkbar halten, daß es in wenigen Jahrzehnten nicht mehr nur acht, sondern zwölf oder noch mehr atomar bewaffnete Staaten geben wird. Die technischen Möglichkeiten sind in vielen Staaten längst gegeben.
    Die Tatsache, daß der von den fünf ursprünglichen Atomwaffenstaaten selbst nicht eingehaltene Sperrvertrag die Ausbreitung atomarer Waffen nicht wirklich verhindern konnte und daß zusätzliche Atomwaffenstaaten aufgetreten sind, während zugleich die Wahrscheinlichkeit wächst, daß weitere Staaten sich atomar bewaffnen werden, erhöht die Gefahr, daß eines Tages ein atomarer Sprengkopf tatsächlich gezündet wird – sei es absichtlich (das Völkerrecht und die Charta der UN verbieten weder einen Erstnoch einen Zweiteinsatz) oder irrtümlich oder wegen unzureichender Kontrollen. Zu dieser Gefahr trägt der Umstand bei, daß die alten Atomwaffenstaaten ihre atomaren und ihre Trägersysteme technologisch immer weiter differenzieren, sie unverwundbar machen und außerdem neuartige Atomwaffen von begrenzter Wirkung (sogenannte mini-nukes) herstellen.
    Beunruhigend ist auch die Gefahr, daß von den insgesamt über 20 000 operativen und über 30 000 obsolet gewordenen und ausrangierten atomaren Sprengköpfen, die heute auf der Welt vorhanden sind, einige der Kontrolle durch die jeweilige Regierung entzogen werden und in falsche Hände geraten könnten. Ein Terrorist benötigt keine Rakete als Trägerwaffe, ihm genügt ein Container, der in einem Hafen oder Flughafen landet. Diese Gefahr, die alle bedroht, ist nicht durch atomare Vergeltungsdrohungen abzuwenden (und ebensowenig durch antiterroristische Hysterie).
    Die Welt bedarf im 21. Jahrhundert einer prinzipiellen Neudefinition der Rüstungsbegrenzung, der atomaren Rüstungskontrolle und der atomaren Abrüstung. Deutschland hat daran ein existentielles Interesse. Zugleich sind wir durch unsere Teilhabe am Atomwaffensperrvertrag und speziell durch dessen Artikel VI zur Initiative legitimiert. Auch ist denkbar, dafür Mitstreiter zu gewinnen. Australien, Brasilien, Kanada, Japan, Italien, Polen und andere große Nicht-Atomwaffenstaaten könnten gemeinsam mit Deutschland auf die Atomwaffenstaaten Druck ausüben, endlich ihre Pflichten aus dem Sperrvertrag zu erfüllen. Gewiß könnte eine derartige Initiative zunächst auf amerikanische Ablehnung stoßen. Wenn aber nichts geschieht, dann werden die vertragstreuen Verzichtstaaten zunehmend deklassiert – und geraten deshalb selbst in atomare Versuchung.
    Das tatsächliche Ergebnis des Sperrvertrages, der die Staaten der Welt in Privilegierte und Verzichtende aufteilt, kann auf lange Sicht keinen Bestand haben. Wenn Amerika, Rußland und die anderen privilegierten Staaten trotz ihrer beträchtlichen konventionellen Militärmacht zusätzliche Atomwaffen und dazu Anti-Raketen nötig haben, warum sollen dann Staaten von geringerer militärischer Macht auf solche Waffen verzichten?
    Es wäre jedenfalls ein wichtiger Schritt in die notwendige Richtung, wenn die durch den Sperrvertrag privilegierten Staaten sich zumindest verpflichten würden, ihre verbleibenden Atomwaffen nicht als erste zu benutzen (»no first use« –kein Erstschlag). Bisher hat allein China erklärt, seine Atomwaffen nicht für einen Erstschlag einsetzen zu wollen. Ein Vertrag der Atommächte, der einen atomaren Erstschlag verbietet, könnte zur Entspannung beitragen – auch wenn seine tatsächliche Einhaltung ungewiß bleibt.
    Sicherlich würde eine amerikanische Initiative zur Begrenzung nuklearer Waffen und Antiwaffen – oder auch nur ihrer Verwendungszwecke – einige Aussicht auf Erfolg haben. Allerdings sind einstweilen weitblickende strategische Denker etwa von der Statur George Kennans, George Marshalls oder auch Trumans und Eisenhowers in Amerika nicht zu erkennen. Statt dessen hat während der letzten Jahrzehnte in der politischen Klasse der USA die imperialistische Haltung die Oberhand gewonnen über die historischen Traditionen sowohl des amerikanischen Isolationismus als auch des multilateralen Internationalismus im Sinne Woodrow Wilsons oder Franklin Roosevelts. Bereits unter Clinton wurde Belgrad bombardiert, unter Bush jun. wurde der Krieg gegen den Irak begonnen – eindeutige Verstöß e gegen das Völkerrecht und gegen die Charta der UN. Die drei Traditionen amerikanischer außenpolitischer Strategie – Isolationismus, Internationalismus, Imperialismus – haben sich im Laufe von zwei Jahrhunderten mehrfach einander

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