Ausser Dienst - Eine Bilanz
werden zum Beispiel erbracht von der Lufthansa oder der Deutschen Bahn, dem Reparaturhandwerk, der Kreissparkasse, der Ortskrankenkasse, der Straßenreinigung, von der Hauptschule, von Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien, vom Einzelhandel, von den Soldaten der Bundeswehr oder von der Polizei. Die weit überwiegende Zahl aller arbeitenden Deutschen verdient ihr Geld mit Dienstleistungen aller Art, nicht aber damit, Stahl zu kochen, Autos zusammenzuschrauben oder Getreide anzubauen. Seit Gründung der Bundesrepublik ist der Umfang der Produktion gewaltig gestiegen, der Umfang der Dienstleistungen aber noch viel stärker. Vor einem halben Jahrhundert machte der Dienstleistungssektor rund 36 Prozent des Sozialprodukts aus, heute hat sich der Anteil verdoppelt, und er wird weiter wachsen. Dieser Prozeß ist typisch für eine reife Industriegesellschaft, auch wenn er gelegentlich mit dem irreführenden und Angst machenden Begriff »Entindustrialisierung« bezeichnet wird. Die USA und England, aber zum Beispiel auch Dänemark sind in diesem Prozeß der ökonomischen Umstrukturierung schon ein Stück weiter als Deutschland.
Die Verlagerung von Teilen des Sozialprodukts (und des Volkseinkommens) zugunsten der Dienstleistung hat im wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen steigt die Produktivität des produzierenden Gewerbes infolge des technischen Fortschritts ständig weiter an, man benötigt also weniger Arbeiter für mehr und zugleich bessere Produkte. Zum anderen verlagert sich mit zunehmendem Wohlstand die allgemeine Nachfrage von Produkten auf Dienste. Niemand kann gleichzeitig zwei Autos fahren, wohl aber wollen immer mehr Menschen ihre Freizeit genießen, immer mehr wollen verreisen und können sich das auch leisten (allein nach Mallorca fliegen jedes Jahr vier Millionen Deutsche und nehmen dort spanische Dienstleistungen in Anspruch). Die zunehmende Überalterung unserer Gesellschaft wird diesen Prozeß noch verstärken.
Die Verlagerung von der Produktion auf die Dienstleistung hat mit ausländischer Konkurrenz und mit Globalisierung fast gar nichts zu tun, vielmehr ist sie vornehmlich eine Konsequenz unseres wachsenden Wohlstands. Zugleich aber ergibt sich daraus eine wichtige wirtschaftspolitische Schlußfolgerung: Es erscheint wenig aussichtsreich, unsere vier Millionen Arbeitslosen zusätzlich in der güterproduzierenden Industrie beschäftigen zu wollen, wenn es doch der Dienstleistungssektor ist, der weiter expandieren wird. Gleichwohl träumen manche Politiker noch immer von Industrieansiedlung.
Überalterung und Schrumpfung
zwingen zum Umbau
In Deutschland leben 82 Millionen Menschen, davon sind 40 Millionen erwerbstätig. Sie arbeiten Voll- oder Teilzeit, einige sind selbständig. Weitaus die meisten sind Arbeitnehmer in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Die übrigen 42 Millionen Einwohner leben von dem Sozialprodukt, welches die kleinere Hälfte der Einwohner hervorbringt (und von unentgeltlichen Leistungen innerhalb der eigenen Familie oder Nachbarschaft). Die Erwerbsquote liegt also deutlich unter 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Rund 21 Millionen Einwohner erhalten eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung; das sind etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1957 hatte der Anteil nur rund 10 Prozent betragen, er wird aber weiterhin steigen. Etwa 6 Millionen Einwohner erhalten Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe (ihre Zahl stagniert, bei einigen Schwankungen, seit Mitte der neunziger Jahre). Insgesamt leben in Deutschland rund 27 Millionen Empfänger staatlicher Sozialleistungen, von denen die allermeisten keine Einkommensteuern und keine Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen haben.
Wer sich diese Zahlen und die weiter ansteigende Alterung unserer Gesellschaft vor Augen führt, wird auf einen Blick zwei für die Zukunft grundlegende Erkenntnisse gewinnen: Zum einen muß die Mehrzahl der Arbeitslosen in Lohn und Brot gebracht werden, wenn die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates und damit seine Sozial- und Rentenpolitik langfristig gesichert bleiben sollen. Zum anderen muß ein weiteres dynamisches Anwachsen der Sozialleistungen gebremst werden. Eine hohe Arbeitslosenrate und ein hoher Rentneranteil an der Gesellschaft entsprechen einer niedrigen Erwerbsquote. Sollte es dabei bleiben, könnte der Sozialstaat in ernste Gefahr geraten. Gegen Ende der achtziger Jahre wurde das Problem bei uns erstmals erkannt. Aber seit der deutschen Vereinigung 1990 hat man vor dieser
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