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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Gefahr lange Zeit die Augen verschlossen. Wir haben zwar 1990 mit innerer Überzeugung den Artikel 20 des Grundgesetzes auf ganz Deutschland ausgeweitet: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« Tatsächlich aber haben wir den Sozialstaat seither zunehmend in Gefahr gebracht.
    Es liegt kein Trost darin, daß Deutschland in Westeuropa und in der Europäischen Union nicht das einzige Land ist, das weder eine ausreichende Erwerbsquote erreicht noch den Wohlfahrtsstaat auf eine für die Zukunft ausreichende, finanziell gesunde Grundlage gestellt hat. Immerhin haben uns einige der kleineren Nachbarstaaten gute Beispiele gegeben – besonders Dänemark, Holland und Österreich. Daß die Staaten im Osten Mitteleuropas beim Vergleich deutlich schlechter abschneiden als wir, ist ebenfalls wenig tröstlich; Polen, Tschechien, Ungarn und andere werden noch Jahrzehnte unter den strukturellen Folgen planwirtschaftlicher kommunistischer Zwangswirtschaft leiden.
    Tatsächlich ist der in Europa entworfene und weitgehend verwirklichte Wohlfahrtsstaat die größte kulturelle Leistung, welche die Europäer während des ansonsten schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben. In den meisten europäischen Staaten ist der Anspruch auf öffentliche Sozialleistungen gesetzlich verankert. In Deutschland umfaßt die soziale Absicherung eine Vielzahl von Leistungen: Kindergeld, Erziehungsgeld, Wohngeld, Sozialhilfe, Bafög, Leistungen während Elternzeit und Mutterschutz, Arbeitslosengeld und Grundsicherung für Arbeitsuchende, Krankenversicherung, Kriegsopferversorgung, Pflegeversicherung, Rentenversicherung, Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge, Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung usw. Vor hundert Jahren gab es die Bismarcksche Alters- und Invaliditätsversicherung – und sonst fast gar nichts. Seither haben wir schrittweise den heutigen Wohlfahrtsstaat aufgebaut. Nur sehr zögernd sind einige außereuropäische Staaten dem Beispiel der Europäer gefolgt. Die europäischen Bürger aber erwarten von ihren Regierungen eine reibungslose Fortsetzung aller bisherigen Sozialpolitik. Trotz aller strukturellen Veränderungen und trotz der Überalterung ihrer Gesellschaften halten die allermeisten Menschen den bisherigen Wohlfahrtsstaat für selbstverständlich. Sogenannte Neoliberale, welche den Wohlfahrtsstaat prinzipiell zurückfahren wollen, gelten als Außenseiter der Gesellschaft und werden es wohl auch bleiben.
    Wenn wir aber das Problem der Massenarbeitslosigkeit, besonders der älteren Jahrgänge und konzentriert im Osten Deutschlands, nicht beheben, können wir den bisherigen Sozialstaat nicht aufrechterhalten. Dann besteht durchaus die Gefahr, daß die Wähler sich massenhaft von den demokratischen Volksparteien abwenden. Populistische Politiker aber, die im Gegenteil zusätzliche Sozialleistungen versprechen, gefährden die Existenz des Wohlfahrtsstaats. Der Abbau der hohen Massenarbeitslosigkeit muß jedenfalls an erster Stelle stehen, bevor andere Korrekturen in die Wege geleitet werden können. Es ergibt keinen Sinn, mehr Teilzeitarbeit oder ein späteres Renteneintrittsalter zu propagieren, solange noch arbeitswillige Arbeitslose keine Arbeit finden, weil zusätzliche Arbeitsplätze nicht angeboten werden.
    Zur Schaffung neuer Arbeitsplätze war Bundeskanzler Schröders sogenannte »Agenda 2010« im Jahre 2003 ein erster, wenn auch sehr später Schritt in die richtige Richtung. Die Verwirklichung en détail war jedoch unzureichend, einige Korrekturen sind inzwischen erfolgt. Aber noch immer gelten mit Gesetzeskraft allgemeinverbindliche flächendeckende Lohntarife; immer noch dürfen Betriebsräte keine individuellen Lohn- und Arbeitszeit-Tarife mit der Geschäftsleitung abschließen; immer noch gilt der Innungszwang; immer noch bleiben Arbeitsplätze als Folge von Zumutbarkeitsregeln unbesetzt; immer noch können sehr viele Menschen vom Arbeitslosengeld oder von Sozialhilfe (heute meist mit dem Stichwort »Hartz IV« bezeichnet) und etwas Schwarzarbeit ausreichend gut leben. Immer noch entspricht die Schwarzarbeit wahrscheinlich rund 15 Prozent zusätzlich zum statistisch erfaßten Volkseinkommen.
    Unser Arbeitsmarkt ist übermäßig hoheitlich und zugleich übermäßig durch die Tarifparteien, das heißt durch private Mächte, mit vielerlei Regeln eingeengt. Wir sprechen zwar von einem Markt; tatsächlich aber werden entscheidend wichtige Teile dieses

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